Blogbeitrag

Diskussion um einen Edeka-Markt in Rödermark

Für Blogartikel sind die jeweils benannten Autoren allein verantwortlich.
Für Blogartikel sind die jeweils benannten Autoren allein verantwortlich.

Die Diskussion um einen Edeka-Markt in Rödermark ist entbrannt. Die meisten Fraktionen haben sich in der Presse dazu mittlerweile geäußert. Gerade die Äußerungen des Bürgermeisters in der Stadtverordnetenversammlung am 20. März 2018 sowie die Pressemeldungen von AL/Grüne und CDU stoßen bei mir zum Teil auf großes Unverständnis. Daher möchte ich hier ein paar eigene Gedanken in die Diskussion einwerfen.

Braucht Rödermark einen Edeka?
Brauchen nicht unbedingt, aber er würde uns gut tun. Im letzten Jahr aktualisierten Einzelhandelskonzept, dass wir von der FDP nicht gewollt haben, weil es keine neuen Erkenntnisse bringt und uns in unserer Entscheidungsfreiheit einschränkt, ist zu lesen, dass in Rödermark genug Kapazität und Kaufkraft für einen weiteren Lebensmittelvollsortimenter vorhanden ist. Bevorzugter Standort: Ober-Roden Nord. Mit 5 Discountern, einem Biomarkt, einem großen, aber nicht hochwertigen Vollsortimenter (Kaufland) und einem kleineren hochwertigen Vollsortimenter (Rewe) ist Rödermark zwar passabel versorgt, dennoch verliert Rödermark auch im Lebensmittelhandel deutlich Kaufkraft an umliegende Gemeinden. Vor allem Tegut (z.B. in Dietzenbach), Edeka (z.B. in Dudenhofen und Münster) und die großen Rewe-Center in Dudenhofen und Dietzenbach ziehen Rödermärker Käufer an (daneben noch real,-, Selgros und Penny). Der Abfluss wird vom Zufluss aus Eppertshausen, Messel und Offenthal bei weitem nicht ausgeglichen. Man kann also festhalten: ein hochwertiger Vollsortimenter mit einem überdurchschnittlichen Bio-Anteil fehlt in Rödermark. Das würde funktionieren. Natürlich würde der Markt auch Kaufkraft von bestehenden Märkten, v.a. Rewe und dem Biomarkt, abziehen, aber nach meiner Auffassung würde der Großteil des Umsatzes mit Käufern gemacht, die bisher außerhalb Rödermarks einkaufen. Alle sollten ein sicheres Auskommen haben.

Wie sieht der ideale Standort aus?
Der ideale Standort für einen großen Vollsortimenter ist etwa 10.000 m2 groß, bietet damit neben dem Lebensmittelgeschäft (z.B. 2000 m2 Verkaufsfläche) Platz für 2-4 weitere kleinere Einzelhandelsketten und liegt in einem Gewerbegebiet. In einem Gewerbegebiet ist die Infrastruktur meist gut und vorhanden, die Straßen sind breit, so dass Liefer- und Kundenverkehr guten Zugang haben, und es gibt keine Probleme mit Lärmfragen, z.B. bei früher Anlieferung. Ideal wäre auch die räumliche Nähe zu weiteren Einzelhandelsflächen, weil dann genauso mit höherem Kundenverkehr zu rechnen ist wie bei kurzen Wegen zu Wohngebieten. Um auch Durchgangsverkehr anzulocken, ist die Lage an einer Durchgangsstraße von großem Vorteil.
Merken Sie was? Vergleichen Sie die Kriterien mal mit dem von Edeka gewünschten Standort in der Max-Planck-Straße …

Gibt es in Rödermark ideale Standorte?
Wenn man die Kriterien anschaut und dazu eine Realisierung in den nächsten 5 Jahren anstrebt (d.h. es muss ein Gebiet sein, in dem schon Baurecht besteht oder aber zeitnah geschaffen werden kann), gibt es in Rödermark 3 gute Standorte. Das sind die Max-Planck-Straße und die Paul-Ehrlich-Straße (jeweils die an den Rödermarkring angrenzende Seite) im Gewerbegebiet Ober-Roden sowie die Ecke Kapellenstraße/Rödermarkring gegenüber der Feuerwehr. In Urberach gibt es aktuell keine auch nur annähernd vergleichbar gute Standorte.

Vergleich der potenziellen Standorte
Ich möchte nun kurz die beiden genannten Standorte vergleichen und Vor- und Nachteile abwägen.
 
Max-Planck-Straße: Breite Straße, verkehrlich von 3 Seiten erreichbar, Hauptzuträger ist der Rödermarkring. Bisher weder an der Ein-/Ausfahrt Albert-Einstein-Straße (Vorfahrt achten) noch an der Senefelderstraße (Ampel) Verkehrsprobleme, d.h. kurze Wartezeiten, keine Schlangen. Die Ansiedlung weiterer attraktiver Einzelhandelsflächen würde nicht zu einer deutlichen Verschlechterung führen, eventuell muss man an der Senefelderstraße in Stoßzeiten mal eine Ampelschaltung mehr warten. Verkehrstechnisch sind also überhaupt keine Probleme erkennbar. Die Nähe zu den Discountern und anderen Geschäften sorgt für Synergieeffekte, kurze Wege, man spart sich Zusatzfahrten zu Rewe oder anderen Vollsortimentern außerhalb Rödermarks. Hohe Attraktivität gerade für die Bewohner des Breiderts und von Ober-Roden Süd. Die Märkte sind vom Rödermarkring aus gut sichtbar, der Standort ist damit gerade für Pendler auf dem Heimweg sehr attraktiv und spricht auch Durchreisende gut an. Negativ sind prinzipiell der Wegfall von Gewerbefläche in der Kernzone des Gewerbegebietes und vor allem die aktuelle rechtliche Unzulässigkeit. Es müsste der Bebauungsplan geändert werden, wozu die Zustimmung von Regierungspräsidium und Regionalverband eingeholt werden muss. Hier könnte es Probleme geben (vor allem weil laut Einzelhandelskonzept in Ober-Roden Süd kein weiterer Standort benötigt wird), muss aber nicht.
 
Kapellenstraße: Anlieferung und Kundenverkehr über Kapellenstraße, Hauptzufluss und -abfluss über den Rödermarkring. Auch hier sind keine größeren Verkehrsprobleme zu erwarten, es müsste vermutlich die Ampelschaltung an der Kapellenstraße angepasst werden, was zu etwas längeren Ampelstandzeiten auf dem Rödermarkring führt. Der Standort bietet keine Synergieeffekte mit anderen Lebensmittelhändlern. Er ist aber von den Stadtteilen Waldacker und Messenhausen bestens zu erreichen, profitiert von der Nähe zur Schule und ist fußläufig von den zukünftigen Bewohnern des benachbarten Wohnbauprojekts erreichbar. Ober-Roden-Nord ist im Einzelhandelskonzept als Standort für einen weiteren Vollsortimenter empfohlen. Für die Fläche gibt es zwar aktuell noch kein Baurecht, aber es gibt quasi einen Aufstellungsbeschluss für einen Bebauungsplan (als Gewerbegebiet), der sich jetzt noch leicht abändern lassen würde in Sonderfläche großflächiger Einzelhandel in einem Teilbereich. Ob die Eigentümer letztendlich verkaufsbereit sind und das Gebiet entwickelt werden kann und sich die Probleme mit den Ausgleichsflächen lösen lassen, bleibt abzuwarten. Die Unsicherheiten sind also vergleichbar mit der Max-Planck-Straße, aber der Zeithorizont bis zu einer möglichen Realisierung ist länger.

Die „Argumente“ des Bürgermeisters
Ich sage nur „20 Anfragen und Gespräche“. Das zeigt doch ganz klar: Das Interesse von Edeka ist sehr groß, der Wille der Hauptamtlichen ist sehr klein. Denn wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Da wird in der Stadtverordnetenversammlung gesagt, Einzelhandel ist an dieser Stelle nicht möglich, weil die Stadtverordneten dies mit dem Beschluss eines abgeänderten Bebauungsplans vor 3 Jahren so beschlossen haben. Alles korrekt, laut Bebauungsplan ist dort Gewerbegebiet und in einem Gewerbegebiet ist großflächiger Einzelhandel unzulässig. Was er nicht gesagt hat ist, dass z.B. FDP und Freie Wähler diesem Bebauungsplan nicht zugestimmt haben und vor allem, dass die Stadtverordnetenversammlung den Bebauungsplan jederzeit wieder ändern kann. Es sind 3 Beschlüsse nötig, um genau auf diesem Areal großflächigen Einzelhandel zuzulassen, in 9 Monaten könnte hier Baurecht geschaffen werden (bei Zustimmung von RP und Planungsverband) – wenn man denn wollte. Bei der Überplanung des Gewerbegebietes vor 3 Jahren kam es übrigens auch zu so einer Anpassung – allerdings in die andere Richtung. Aus dem ehemaligen Sondergebiet Profi-Baumarkt wurde wieder Gewerbegebiet. Und auch für die Projekte in der Kapellenstraße und der Odenwaldstraße wurde vorhabenbezogen Gewerbegebiet in Mischgebiet umgewandelt, um Wohnungsbau zu ermöglichen. Ein ganz normaler kommunalpolitischer Vorgang. Nur bei Edeka soll das nicht möglich sein? Soll er doch einfach sagen: ich will das nicht.
Das erinnert doch sehr stark an die Verhinderungsposse von Rossmann vor 2 Jahren. Auch hier wollte er nicht. Da musste der Investor noch ein unsinniges Verkehrsgutachten bezahlen, damit der Bürgermeister wenigstens irgendein fadenscheiniges Argument in der Hand hat, mit dem er seine erst ablehnende Haltung rechtfertigen kann. Als ob die 8 Kunden von Rossmann den Aldi-Kreisel verstopfen oder Schmoll die knappen Parkplätze wegnimmt. Oder haben sie (außer am Eröffnungstag) schon einmal erlebt, dass Rossmann, Aldi und die Straße mit Kunden zugeparkt und der Kreisel verstopft war?

Die „Argumente“ der Grünen
Die Grünen nehmen in ihrer Stellungnahme natürlich die vorgeschobenen Argumente ihres Bürgermeisters auf, kommen zu der Erkenntnis, dass eine Zustimmung des Regionalverbands ausgeschlossen erscheint. Wie sie zu dieser in meinen Augen falschen Erkenntnis kommen und auf welchen Fakten diese beruht, sagen sie nicht. Aber sie gehen noch einen Schritt weiter, sprechen davon, dass sich in der Max-Planck-Straße die komplizierte Verkehrssituation erheblich verschärfen würde. Okay, wieder was gelernt, für die Grünen sind also 3 Autos pro Minute auf einer 11 m breiten Straße schon kompliziert. Wenn sich das dann durch Edeka auf 6 Autos pro Minute erhöht, ist das natürlich verschärft. Ja, Gotta-Eloxal hat ein paar LKW, die auch teilweise fahren und leider öfters auf der Straße und nicht auf dem Betriebsgelände parken, aber erheblicher LKW-Verkehr? Da ist keine Spedition, die Max-Planck-Straße hat am Tag weniger LKW als die Waldstraße in Dietzenbach in 30 Minuten. Mensch Kollegen, bleibt doch mal auf dem Teppich!
Dann wird von Standortsicherung der ansässigen Firmen gesprochen. Alle dort noch ansässigen kleinen Firmen wissen, dass sie wegmüssen, wenn die Eigentümer das Grundstück veräußern – egal ob an einem Gewerbebetrieb oder an einen Einzelhändler. Das ist normales Geschäft. Es ist in so einem Fall hilfreich, wenn sich die Wirtschaftsförderung einschaltet und Alternativstandorte im Stadtgebiet anbieten kann. Im Moment sichert man am dortigen Standort mit dem Bebauungsplan augenscheinlich eher die Gewerbebrache – ein Unding bei gleichzeitigem Mangel an Gewerbeflächen.
Dass die Eigentümer damals keine Einwände gegen den Bebauungsplan hatten, ist doch klar: damals gab es ja auch noch kein lukratives Kaufangebot eines Projektentwicklers, man baute noch darauf, einen Käufer für die Gewerbefläche zu finden, der seinerseits Gewerbe dort ansiedeln möchte. Die Situation ist nun eine andere und ein Bebauungsplan ist nicht in Stein gemeißelt.
Das i-Tüpfelchen ist dann der letzte Satz: „Gemeinwohl steht über dem privatem Verwertungsinteresse“. Den Satz unterschreibe ich sofort, da sind wir uns 100 % einig. Aber der Satz impliziert, dass es für das Gemeinwohl dort besser wäre, die Industriebrache zu behalten als einen attraktiven Einzelhändler zuzulassen. Nach meiner Auffassung besteht hier der Fall, dass Allgemeinwohl und privates Verwertungsinteresse deckungsgleich sind. Ein Edeka an dieser Stelle dient dem Allgemeinwohl. Aber die grünen Bio-Mütter setzen sich anscheinend lieber in ihre 200 PS SUV’s und fahren zu Tegut und Edeka nach Dietzenbach und Münster, um die Bio-Produkte zu kaufen, die es in unserem Bio-Markt nicht gibt. Ich weiß, dass sind ein paar viele Klischees auf einmal, aber ich will zeigen, dass für unsere Grünen die ökologischen Aspekte bei ihrem Kampf gegen Veränderung ebenso auf der Strecke bleiben wie die Wünsche der Bevölkerung.

Die „Argumente“ der CDU
Die CDU ist wie immer in dieser Koalition ambivalent. Auf der einen Seite stellen sie richtigerweise fest, dass sowohl ihre Wähler als auch ihre Mitglieder Edeka begrüßen würden – durchaus auch an dieser Stelle. Um nicht auf Konfrontation mit dem Bürgermeister zu gehen, führen sie auf der anderen Seite Scheinargumente wie das Einzelhandelskonzept sowie „geordnete städtebauliche Entwicklung“ vor, um die jetzt diskutierte Stelle auszuschließen und auf den Sankt-Nimmerleinstag zu verschieben. „Areale im Außenbereich insbesondere als Arrondierung an die bestehende Bebauung können in Betracht gezogen werden“. In Betracht ziehen kann man vieles, aber ist das auch realistisch? Es gibt nur 2 Flächen, auf die zutrifft, dass sie nach aktuellem Flächennutzungsplan nach Aufstellung eines Bebauungsplans dazu hergenommen werden könnten. Die eine liegt in der grünen Mitte, die andere ist die bereits beschriebene an der Kapellenstraße. Bei allen anderen Flächen müsste man diese erst beim Planungsverband als Bauerwartungsland anmelden, das Verfahren der Erstellung des nächsten regionalen Flächennutzungsplans muss erfolgreich durchlaufen werden, bevor die Stadt wiederum ein Bauleitverfahren eröffnen kann. In den nächsten 6-8 Jahren passiert hier wenig, ist meine Prognose. Sollte diese Koalition noch länger Bestand haben, reden wir von Jahrzehnten.
Ich sehe die „Auswirkungen städtebaulicher Art“ vor allem positiv, denn aus einer Industriebrache mit aktuell maximal 20 Arbeitsplätzen auf 12.500 m2 würde ein attraktiver Einzelhandelsstandort, der das Gewerbegebiet insgesamt aufwerten würde. Die CDU möge mir mal erklären, ob sie irgendwelche negativen Auswirkungen städtebaulicher Art sieht und wenn ja welche. Einzig der letzte Teilsatz der Pressemitteilung spricht Wahres: Rödermark wäre letztendlich auf die Zustimmung übergeordneter Instanzen angewiesen. Aber mit einem entsprechenden Willen und guter Lobbyarbeit sollte das möglich sein. Leider sehe ich beides bei unseren Hauptamtlichen nicht.

Fazit
Wenn ich die Wahl habe, eine bestehende große Gewerbefläche, die seit vielen Jahren zum großen Teil brach liegt und augenscheinlich schwer zu vermarkten ist, zeitnah zu revitalisieren oder auf eine Fläche zu setzen, bei der es nicht einfach sein wird, Baurecht zu schaffen, die dann aber aufgrund der grünen Wiese und der exponierten Lage sehr einfach zu vermarkten sein wird, dann nehme ich ersteres. Für die Bürger wäre ein Edeka in der Max-Planck-Straße ein großer Gewinn. Nach reiflicher Überlegung wird sich die FDP daher dafür einsetzen, dass der Markt hier seinen neuen Standort bekommt.
Denken wir das ganze noch ein bisschen weiter: Von den 12.500 m2 Fläche werden 2.000 abgetrennt und stehen für Kleingewerbe weiterhin zur Verfügung. Edeka holt seine Tochter Profi-Getränkemarkt auf das neue Gelände, der alte Getränkemarkt-Standort wird frei und könnte von den privaten Eigentümern z.B. bei Bedarf an die Firma Schmoll vermietet oder verkauft werden, die damit ihre Expansion am bisherigen Standort fortführen kann.
Und Edeka verpflichtet sich in einem städtebaulichen Vertrag, zusätzlich einen Frischenahversorger in der Stadtmitte einzurichten. Edeka geht nämlich seit einiger Zeit wieder verstärkt mit kleinen Läden mit ausgewähltem Frischeangebot in Innenstadtlagen. Dazu wird parallel die Kapellenstraße entwickelt, das 10 ha-Eckgrundstück wird an Rewe verkauft, die dann in 4 Jahren dorthin in einen größeren Markt umziehen. Auf dem Areal zieht auch noch ein Markenschuhgeschäft ein. Um eine Lärmschutzwand an der Mainzer Straße zu verhindern, werden dort statt eines Vollsortimenters ein Fastfoodrestaurant und ein Asiarestaurant errichtet. Die passen dort besser hin und fehlen in Rödermark nämlich auch noch. (Nicht falsch verstehen: Ich persönlich lehne Fastfood ab und brauche es nicht. Dennoch muss ich anerkennen, dass der Bedarf da ist. Und aus ökologischer Sicht ist es sinnvoll, den vorhandenen Fastfoodtourismus nach Dietzenbach oder Dieburg einzuschränken.)
Es könnte alles so schön sein, wenn man nur wollte.
Dr. Rüdiger Werner
30. März 2018

Richtigstellung: In der Originalversion des Blogs konnte der Eindruck entstehen, die Firma Edeka sei der Besitzer des Grundstücks, auf dem heute der Profi-Getränkemarkt angesiedelt ist. Richtig ist, dass sich das Grundstück in Privatbesitz befindet. Für diese unklare Darstellung, die aber an der grundsätzlichen Vision nichts ändert, möchte ich mich entschuldigen.


Rüdiger Werner, 6. April 2018

Meinungen / Blog.
Für den Inhalt der einzelnen Blogartikel sind die jeweils benannten Autoren allein verantwortlich. Die Inhalte der Artikel spiegeln nicht, bzw. nicht zwangsläufig die Meinung der FDP-Rödermark (Partei und Fraktion) wider.

Blogbeitrag

Umgang mit der Türkei und eine türkische Partnerstadt

Blog von Dr. Rüdiger Werner.
Über den Umgang mit der Türkei und warum für mich eine türkische Partnerstadt nicht in Frage kommt.
Für den Inhalt der einzelnen Blogartikel sind die jeweils benannten Autoren allein verantwortlich. Die Inhalte der Artikel spiegeln nicht, bzw. nicht zwangsläufig die Meinung der FDP-Rödermark (Partei und Fraktion) wieder.

Blogbeitrag

Über den Umgang mit der Türkei und warum für mich eine türkische Partnerstadt nicht in Frage kommt

Wenn man sich mit der Türkeifrage auseinandersetzt, kommt man nicht umher, einen Blick zurück in die jüngere Geschichte des Landes zu werfen. Ich will versuchen, ein paar Punkte zu benennen, die als Hintergrund zur Beurteilung der heutigen Situation wichtig sind, ohne dabei Geschichtslehrer sein zu wollen. Auch möchte ich die Lage in der Türkei nicht im Detail beschreiben oder beurteilen. In den letzten Jahren gab es dazu 100 Kommentare und Berichte in den Zeitschriften, im Internet, im Fernsehen, die wahrscheinlich alle einen tieferen Einblick haben als ich. Ich möchte allerdings eine persönliche Bewertung vornehmen und die Gründe erläutern, die mich zu meiner Haltung gebracht haben und damit den Bogen zur aktuellen Kommunalpolitik spannen, wo die FDP den Antrag gestellt hat, die Diskussion um eine türkische Partnerstadt zu beenden und der offiziellen Anfrage von Hekimhan eine Absage zu erteilen.

Die Entwicklung der Türkei in den letzten 20 Jahren
In den 90er Jahren gab es in der Türkei 3 politische Strömungen: eine konservativ nationalistische (Süleyman Demirel, Mesut Yilmaz, Tansu Çiller – ANAB, DYP), eine sozialdemokratisch-sozialistische (Bülent Ecevit – DSP, CHP) sowie eine islamistisch-nationalistische (Nezmettin Erbakan, Abdullah Gül, Recep Tayyip Erdoğan – MSP, DP, FP, AKP). Aus meiner Erinnerung heraus gab es ständige Wechsel in den Ämtern des Ministerpräsidenten sowie des Staatspräsidenten. Als 1996 mit Erbakan erstmals Islamist eine Mehrheit organisieren konnte, brachte das das Militär sowie die Gerichtsbarkeit auf den Plan, die sich als Hüter der kemalistischen Türkei sahen und auf eine strenge Trennung zwischen Staat und Religion achteten. Erbakan wurde zum Rücktritt gedrängt, die DP verboten, der Sozialist Ecevit übernahm. Im Hintergrund kämpften die Islamisten um ihre Rechte, aufgrund nicht verfassungskonformer Wahlkampfäußerungen wurde damals auch Erdoğan zu 10 Monaten Haft verurteilt und mit einem Mandatsverbot belegt. Aus der DP wurde die FP, die 2001 verboten wurde. Der Streit unter den Islamisten führte zu einer Spaltung und der Gründung der AKP durch Erdoğan. Ein Machtkampf zwischen Ecevit und dem damaligen Staatspräsidenten Ahmet Sezer verbunden mit einer Bankenkrise führte 2001 zu einer ernsten Wirtschaftskrise. Aus dieser Gemengelage heraus – Hyperinflation, hohe Arbeitslosigkeit, zerstrittene Sozialisten, zersplitterte Konservative, Korruption, ständige Einmischung des Militärs, keine Kontinuität in der Führung des Landes, wirtschaftliche Schwäche – wollten die Türken vor allem eines: Ruhe und Kontinuität. Deshalb wählten Sie 2002 die AKP an die Macht. Mit ihrer Mehrheit änderte die AKP erst einmal die Verfassung derart ab, dass das Politikverbot für Erdoğan und andere aufgehoben wurde. Was dann geschah, beeindruckte die meisten Türken. Erdoğan schaffte es tatsächlich, Stabilität und Kontinuität hineinzubringen. Er erkannte, dass als erstes die Wirtschaft auf Vordermann gebracht werden musste, bevor er sich um eine Islamisierung kümmern konnte. Und er hatte mit seinem wirtschaftsliberalen Kurs erstaunliche Erfolge aufzuweisen. Die Wirtschaft wuchs bereits in den ersten Jahren seiner Regierungszeit deutlich. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich mehr als verdoppelt, die neue türkische Lira ist einigermaßen stabil, die Hyperinflation ist vorbei. Was er nicht beseitigen konnte ist – trotz enorm gestiegener Exporte – das hohe Leistungsbilanzdefizit. Die meisten dieser Erfolge konnten bis 2012 erzielt werden. Seitdem sind die Wachstumsraten abgeschwächt, der Wert der türkischen Lira hat sich in den letzten 5 Jahren im Vergleich zum US-Dollar halbiert. Vielleicht ist es auch diese fehlende Phantasie, wie er sein Volk mit weiteren Wirtschaftswunderdaten beglücken kann (und damit ein wichtiges Wahlargument mehr und mehr verschwindet), die den Wandel hin zur Abschaffung der Demokratie in den letzten 5 Jahren mit verursacht hat.

Die Türkei überschreitet Grenzen
Als Ecevit und Erdoğan zu Beginn des Jahrtausends den EU-Beitritt der Türkei forcierten, war ich zwiegespalten. Auf der einen Seite ließe sich das Land so mehr an Europa und unsere Wertegemeinschaft heranführen, der Laizismus der Türkei wäre gefestigt, da eine komplette Islamisierung in der EU nicht möglich wäre. Auch die wirtschaftlichen Daten sprachen Mitte/Ende des letzten Jahrzehnts eher für eine Aufnahme. Mit nun rund 80 Millionen Menschen ist die Türkei ein riesiger Markt, das Pro-Kopf-Einkommen ist höher als in den EU-Staaten Rumänien und Bulgarien. Auf der anderen Seite sehe ich die EU nicht nur als Wirtschaftsunion, sondern auch als Wertegemeinschaft, die trotz einer enormen Vielfalt auf regionaler Ebene doch auch eine ähnliche Kultur aufweist. Das sah ich schon damals bei der Türkei nicht. Es ist ein anderer Kulturkreis, eine andere Religion, die trotz des Laizismusses stärker im Blickfeld steht als in Westeuropa, eine Turksprache und keine indogermanische Sprache. Die Angst vor dem Andersartigen ist daher bei den Türken in vielen Bevölkerungsschichten weit mehr vorhanden als bei z.B. Serben, Albaner oder Ukrainer, die auch gerne in die EU möchten.
Während die Türkei zu Beginn des Jahrtausends noch Kompromisse einging und versuchte, einen Teil der Forderungen der Europäer für eine EU-Aufnahme zu erfüllen (z.B. Abschaffung der Todesstrafe im Zuge der Özalan-Debatte), schwand diese Bereitschaft im letzten Jahrzehnt merklich bis zur Unkenntlichkeit. Für mich und viele andere von zentraler Bedeutung sind dabei Rechte wie Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit, aber auch die Anerkennung von Schuld. Den Genozid an den Armeniern im 1. Weltkrieg zu leugnen ist in meinen Augen fast so pervers wie den Genozid an den Juden im 2. Weltkrieg zu leugnen. Wo genau ist das Problem dabei? Viele Nationen haben einen Schandfleck in ihrer Geschichte, haben das zugegeben und verarbeitet. Es geschah im Osmanischen Reich, nicht mal in der Türkei und es geschah in Kriegszeiten.
Ein weiteres zentrales Problem ist der Umgang mit Minderheiten im eigenen Land. Die territoriale Integrität des Landes steht in der türkischen Verfassung ganz weit oben. Aber das als Grundlage zu nehmen, die größte Minderheit zu unterdrücken und zu vernachlässigen, kann nicht sein. Nur 70 % der in der Türkei lebenden Menschen gehören der türkischen Volksgruppe an, die Türkei ist ein Vielvölker- und ein Vielsprachenstaat. Wie kann es sein, dass nur 1% der Einwohner als Minderheit anerkannt sind? Was sind die anderen 29 %? Wie kann es sein, das ein Sprache, die für über 10 Millionen Menschen Muttersprache ist (Kurmandschi) nicht als Amtssprache anerkannt ist? Gleiches gilt für die zweite Kurdensprache Zaza. Wenn man ein 15-Millionen-Volk systematisch unterdrückt, Kurdische Fernsehsender und Zeitungen verbietet, kurdische Politiker und Journalisten inhaftiert (ich rede nicht von den letzten 2 Jahren), braucht man sich nicht zu wundern, dass man Widerstand erntet, dass man auch bereit ist in den Untergrund zu gehen und für seine Rechte zu kämpfen. Erst züchtet man sich also durch sein eigenes Verhalten einen Staatsfeind Nr. 1 (die kurdische Arbeiterpartei PKK), um dann für alles und jedes einen Vorwand zu haben, um demokratische Regeln außer Kraft zu setzen. PKK = Terroristen, Kontakt zu PKK = Terrorist, potenzieller Kontakt zu PKK = Terrorist, Terrorist, da man ja prinzipiell die Möglichkeit gehabt hätte, mit jemanden Kontakt aufzunehmen, der potenziell Kontakt zur PKK hat.
Meine Theorie ist: Würde man die Kurden nicht seit Jahrzehnten wie Staatsbürger 2. Klasse behandeln, hätte man ein Wahlsystem, bei dem auch Vertreter von Minderheiten eine Chance hätten (Abschaffung 10%-Hürde z.B.), würde man die Kulturen der Minderheiten gleichberechtigt sehen und behandeln anstatt diese zu unterdrücken, hätten wir die meisten der heutigen Probleme nicht.
Ich sehe die Rolle der Türkei im Syrienkonflikt sehr kritisch. Offiziell erklärt man den IS zum Feind und bombardiert ihn ab und zu, inoffiziell hat man jahrelang Waffenlieferungen an den IS zugelassen. Der IS war aus 3 Gründen opportun: er hat zumindest im Namen das Wort „Islamisch“, er kämpft gegen das türkische Feindbild Assad in Syrien und vor allem er kämpft gegen die Kurden in Nordsyrien und im Nordirak und hält diese somit klein. Denn was ist das schlimmste, was der Türkei passieren kann? Nach dem 2. Irakkrieg nutzte die kurdische Minderheit im Nordirak das 10-jährige Machtvakuum und operiert seitdem weitgehend autonom, anfangs mit großem wirtschaftlichen Erfolg. Eine funktionierende Autonomie der Kurden im Nordirak würde auch den Wunsch der türkischen Kurden nach mehr Autonomie, ja vielleicht sogar nach einem eigenständigen Kurdenstaat fördern. Durch den Kampf mit dem IS ist der Aufschwung in den irakischen Kurdengebieten zusammengebrochen. Aber das ist der Türkei noch nicht genug. Da die kurdischen Peschmerga es trotz schlechter Ausrüstung als einzige geschafft haben, den IS zurückzudrängen und ihr Territorium weitgehend zu befrieden, unterstützt man halt den IS darin, angebliche PKK-Stellungen im Nordirak zu bombardieren. In einer Reportage vor ein paar Wochen wurde behauptet, die Türkei hat in den letzten 3 Jahren mehr Angriffe auf Stellungen der Kurden als auf Stellungen des IS geflogen. Das sagt alles.

Mein Fass endgültig zum Überlaufen gebracht hat die Reaktion auf die Bundestagsresolution zum Völkermord an den Armeniern vor 2 Jahren. Endlich hat der Bundestag mal den Mut gehabt, etwas auszusprechen, was anderen Mächten auf dieser Welt nicht passt. Wenn der höchste Deutsche Souverän, einfach nur eine Feststellung macht, die der historischen Wahrheit entspricht und die Türkei daraufhin den höchsten deutschen Souverän wüst beschimpft und es Vertreter des Deutschen Bundestages nicht gestattet, ihre Soldaten auf dem NATO-Stützpunkt in Incirlik zu besuchen. Und nach diesem unglaublichen Vorfall eines angeblichen NATO-Verbündeten diskutieren wir hier wochenlang um Wahlkampfauftritte türkischer Politiker, die Werbung für ein noch undemokratischeres System machen wollen?
Die jüngste Geschichte kennt jeder: Einschnitte in die Versammlungs- und Pressefreiheit, Putschversuch, Ausnahmezustand, großangelegte Säuberungs- und Entlassungswelle, Böhmermann-Affäre, staatliche Medienkontrolle, Nazi-Beschimpfungen gegenüber Europa, Verfassungsreferendum hin zu einer Präsidialdiktatur.

Der Kampf um Werte
Ein Berufspolitiker steht in einem ständigen Konflikt: Was wiegt stärker – die Vertretung der Interessen meines Landes oder das Stehen hinter meinen Grundwerten? Auf der einen Seite hat die Bundesrepublik Deutschland ein großes Interesse an einer funktionierenden Beziehung mit der Türkei als NATO-Partner in dem politischen Brennpunkt des Kontinents, als wichtiger Wirtschaftspartner (drittwichtigster außereuropäischer Handelspartner) und als Abstammungsland von fast 3 Millionen Mitbürgern in Deutschland. Auf der anderen Seite stehen die Werte des Grundgesetzes, die für jeden das höchste Gut sein sollten, für die es sich zu kämpfen lohnt. Wie geht man nun um mit Staaten und Politikern, die sich im eigenen Land um Grundrechte oder gar das Völkerrecht nicht scheren? Die mit purer Macht und Gewalt ihren Willen durchsetzen. Auf beiden Augen blind und durch? Reicht ein „du, du, du, das macht man aber nicht – kommen wir nun zum Geschäft“? Oder ist man gegebenenfalls sogar bereit, die Werte an die erste Stelle zu stellen und die Interessen hinten anzustellen – mit möglicherweise negativen Konsequenzen für das eigene Wahlvolk?
Meine Antwort darauf ist ganz klar: meine Grundwerte, die Werte des Grundgesetzes sind nicht verhandelbar. Als Vertreter einer freiheitlichen Partei ist der Freiheitsbegriff für mich eminent, die persönliche Freiheit des einzelnen ist in all ihren Aspekten zu wahren und ein Unrecht wird nicht dadurch rechter, nur weil es von einem wichtigen Verbündeten oder einem wichtigen Handelspartner begangen wurde. Ich wünsche mir hier Politiker, die klare Kante zeigen und auch bereit sind, die Konsequenzen dafür zu tragen. Mir hat es gut gefallen, dass Außenminister Sigmar Gabriel mit israelischen NGO’s gesprochen hat.
Populisten haben auch deshalb Aufwind, weil sie oftmals kein Interesse an den staatlichen Interessen haben, weil sie die Welt mit einem klaren Schwarz-Weiß-Bild vereinfachen, klare Positionen – scheiß auf die Konsequenzen! So weit würde ich jetzt nicht gehen, klare Kante heißt nicht Holzhammermethode, aber ein bisschen mehr Bosbach und weniger Merkel dürfte es in Berlin schon sein. Mir ist dein Einstehen für meine Grundwerte auch außerhalb Deutschlands wichtiger als 50 € mehr im Portmonee.
Im Falle der Türkei heißt das, die Grenzen ganz deutlich zu ziehen. Einreisestopp für alle türkischen Politiker, solange es keine offiziellen Entschuldigungen für diese Nazi-Vergleiche gibt. Sofortige Beendigung der EU-Beitrittsgespräche. Keine deutschen oder EU-Finanzmittel mehr nach Ankara. Abzug aller deutschen Soldaten aus der Türkei. Unterstützung der türkischen Zivilgesellschaft bei ihrem Kampf um ihre Grundrechte. Ich würde sogar soweit gehen und Erdoğan anklagen wegen Beleidigung und Volksverhetzung. Ein internationaler Haftbefehl gegen den gewählten türkischen Staatspräsidenten wäre ein klares Zeichen, dass er alle denkbaren Grenzen überschritten hat und er sich damit international isoliert hat. Wenn jemand merkt, er kommt mit Grenzüberschreitungen durch, dann wird es für ihn auch keine Grenzen mehr geben. Und schlimmer als heute geht immer.
In meinen Augen müsste auch ein NATO-Ausschluss diskutiert werden. Es kann nicht sein, dass die Peschmerga von den meisten NATO-Staaten unterstützt, aber von der Türkei bombardiert wird.

Türken in Deutschland
Ich hatte in meiner Studienzeit das Vergnügen, einige Wochen lang ein paar Studentinnen der türkischen Partneruniversität betreuen zu dürfen. Das waren lebenslustige, modisch gekleidete und geschminkte junge Frauen ohne Kopftuch, die sich verstört über die in Deutschland lebenden Türken gezeigt haben. „So ist meine Oma vor 40 Jahren rumgelaufen“, lautete die nun schon 20 Jahre alte Aussage. Ich weiß noch, wie eines der Mädchen seine Verwandtschaft in Deutschland als „antiquated and backward“, also rückständig bezeichnete. Nun kamen die Mädels aus einer Großstadt und hatten vielleicht auch keinen objektiven Blick, aber eines kann man bei einem größeren Teil der hier lebenden Mitbürger türkischer Abstammung schon sagen: sie sind in der kulturellen Entwicklung stehen geblieben. Fernab der Heimat in der Fremde sucht man Geborgenheit, das Verbindende – und das findet man häufig in der Kultur der Heimat, den Traditionen aus der Kindheit, die man pflegt, um Halt im Leben zu haben, oft ohne zu merken, dass die Entwicklung in der Heimat weitergegangen ist und man hier nun durchaus rückständig ist.
Das betrifft den einen Teil der Türken, die obwohl teilweise schon 50 Jahre im Land, sich ausschließlich als Türken sehen, die deutsche Staatsbürgerschaft ablehnen und sich auch sonst nicht wirklich in die deutsche Zivilgesellschaft integriert haben. Der andere Teil ist kulturell assimiliert, hat meist die deutsche Staatsbürgerschaft und ist außer vom Namen her kaum noch als Türke oder Türkin wahrnehmbar. Meine These ist daher: hätten alle türkisch-stämmigen Bürger in Deutschland bei der Wahl zum Verfassungsreferendum teilgenommen, hätte es eine klare Mehrheit gegen Erdoğan gegeben. Aber teilnehmen durften ja nur die diejenigen mit türkischem Pass und auch davon hat nur die Hälfte teilgenommen. Ich bin in der Wahlperiode etwa zehnmal am türkischen Konsulat in Frankfurt vorbeigefahren, wo meist eine Schlange an wahlberechtigten Türken davorstand. Und das war mehrheitlich tatsächlich (und dem Klischee entsprechend) die Fraktion der bärtigen Männer und kopftuchtragenden Frauen. Insofern wundern mich die 60 % Zustimmung aus dem Frankfurter Wahllokal nicht wirklich.
Gerade in der Ferne entwickelt man ein besonders starkes Heimatgefühl, man wünscht sich ein starkes Heimatland, das einen mit Stolz erfüllt. Ein Lautsprecher und Populist wie Erdoğan wird da gerne genommen, da der Blick auf die Realitäten in der Heimat oft verklärt ist. Ein türkischer Mieter hat mir z.B. felsenfest erklärt, dass die medizinische Versorgung in der Türkei besser wäre als in Deutschland.
Ein weiterer äußerst wichtiger Punkt ist die Kontrolle der Medien. Im Handbuch für Diktatoren steht auf Seite 1: Bringe die Medien unter deine Kontrolle. Das hat Erdoğan erst schleichend und in den letzten Monaten für alle sichtbar getan. Regierungskritische Medien sind kaum noch vorhanden, kritische Journalisten reihenweise hinter Gittern, die wichtigsten Medien komplett unter staatlicher Kontrolle und auch das Internet wird zensiert. Seit dem 1. Mai ist sogar Wikipedia gesperrt. „Die türkischen Behörden hätten Wikipedia aufgefordert, bestimmte Autoren und Links zu entfernen, die der „Terrorunterstützung“ dienten. Dem sei nicht nachgekommen worden.“ Was ist das Resultat? Der Normalbürger weiß in der Regel nicht, welche der vielen Zeitungen und Sender wirklich frei berichten und welche nur das berichten, was der Staat will. Wenn man aus vielen Kanälen jahrelang nur das Beste über seine Führung und den Staat hört (weil alles Schlechte und Kritische ausgeblendet und verschwiegen wird), glaubt man es irgendwann. Man ist ohne sein Wissen manipuliert worden.
Erdoğan hat hier durchaus Vorbilder: Putin hat das in Russland gemacht und es so auf 80 % Zustimmung gebracht, Orban in Ungarn und das Dreigestirn Szydlo/Duda/Kaczynski in Polen versuchen dem im Ansatz nachzueifern. Am weitesten gebracht hat es diesbezüglich die Familie Kim in Nordkorea, die dort wirklich gottgleich verehrt wird, weil die Menschen keine andere Möglichkeit haben, als das zu glauben, was in den staatlichen Medien erzählt wird.
Fazit: Umso länger Erdoğan im Amt ist, umso einfacher wird bei Abwesenheit von kritischen Medien der Machterhalt für ihn.
Am Ende dieses Abschnittes noch etwas Statistisches. Die Türkischstämmigen sind zwar mit knapp 3 Millionen noch die mit Abstand größte Migrantengruppe in Deutschland, aber ihre Zahl stagniert, die der türkischstämmigen Ausländer nimmt sogar ab. Die Türken stellen mit jährlich 20.000-40.000 Personen die bei weitem größte Gruppe unter den jährlich Neueingebürgerten. In den letzten Jahren ist der Fortzug in die Türkei größer als der Zuzug von der Türkei. Gerade viele türkische Rentner verbringen ihren Lebensabend lieber in der Türkei als in Deutschland.
Von den aktuell rund 2,85 Millionen türkischstämmigen Mitbürgern haben übrigens rund 250.000 die doppelte Staatsbürgerschaft, rund 650.000 haben sich bisher einbürgern lassen, knapp 500.000 sind als Deutsche geboren und rund 1.480.000 besitzen nur die türkische Staatsbürgerschaft. Mit 43,2 Jahren ist das Durchschnittsalter der türkischstämmigen Ausländer übrigens weit überdurchschnittlich hoch.

Städtepartnerschaften in der heutigen Zeit
Städtepartnerschaften werden in der Regel von 2 ähnlichen Kommunen eingegangen mit dem Ziel, sich kulturell und wirtschaftlich auszutauschen. Je nach Engagement der Städte werden oftmals jährliche Besuche organisiert. Die Initiative hierzu geht entweder von der Stadtverwaltung, gelegentlich auch von Vereinen aus. Die Besucher sollen in der Regel bei privaten Gastgebern untergebracht werden, was das Zusammenwachsen der Völker fördert. Nehmen Vereine an einem solchen Austausch teil, so werden nicht selten gemeinsame Veranstaltungen, etwa Wettkämpfe oder Konzerte, veranstaltet. Städtepartnerschaften sind ein Instrument der Völkerverständigung und können auch Demokratisierungsprozesse fördern im Sinne einer kommunalen Außenpolitik. Daher existieren z.B. besonders viele Städtepartnerschaften mit Polen. In den 50er bis 90er Jahren, als die allermeisten der heute bestehenden Städtepartnerschaften gegründet wurden, hatte der Aufbau einer Städtepartnerschaft meist berechtigte Gründe. Entweder wurden bestehende kulturelle Beziehungen dadurch gefestigt (so existieren viele Städtepartnerschaften dort, wo die Schulen beider Städte vorher eine Schulpartnerschaft in Leben gerufen haben) oder die Völkerverständigung stand im Vordergrund. Im Jahre 2017 wird es schon schwieriger, gute Gründe zu finden, neue Partnerschaften zu gründen, denn in unserer weitgehend offenen und medial geprägten Welt braucht es keine Städtepartnerschaften mehr zur Erreichung der genannten Ziele. Der allergrößte Teil der Bevölkerung hat keine oder nur minimale Beziehungen zu den Partnerstädten, sie spielen im Leben der meisten Mitbürger keinerlei Rolle. Daher wird es für viele Kommunen immer schwieriger, die Beziehungen zu ihren Partnerkommunen aufrecht zu erhalten. So manche Städtepartnerschaft besteht nur noch auf dem Papier. Es muss daher die generelle Frage erlaubt sein: sind Städtepartnerschaften noch zeitgemäß?
Auch in Rödermark werden die 3 bestehenden Partnerschaften nur von wenigen Personen gepflegt. Man kann den Eindruck gewinnen – ich bin mir sicher, hier werden mir einige widersprechen – die Partnerschaften sind für viele mittlerweile mehr Pflichtaufgaben denn Herzensangelegenheit.
Städtepartnerschaften leben von den regelmäßigen gegenseitigen Besuchen. Dazu ist es von Vorteil, wenn man sich in Auto, Bus oder Zug setzen kann und in einigen Stunden vor Ort ist. Wenn man erst eine mehrstündige Flugreise auf sich nehmen muss, wird dieser wesentliche Punkt kostspieliger und schwieriger.
Städtepartnerschaften binden immer auch Verwaltungspersonal und sind nicht kostenlos zu haben. Ich schätze die Kosten pro Partnerstadt und Jahr auf mindestens 5.000 €.

Aus all diesen Gründen bin ich der Meinung, Rödermark hat mit seinen 3 Partnerstädten genug zu tun. Man sollte lieber versuchen, diese Partnerschaften zu pflegen und mit mehr Leben zu füllen, als eine weitere Partnerschaft einzugehen. Ich lehne daher eine neue Städtepartnerschaft generell ab. Für die Ablehnung einer offiziellen Partnerschaft mit Hekimhan gibt es aber noch andere, spezifischere Gründe, die ich im übernächsten Kapitel erläutern möchte.

Die Verbindung von Rödermark und Hekimhan
Als in den 60er Jahren im Zuge der Anwerbungswelle von Gastarbeitern auch viele Türken nach Deutschland kamen, haben diese naturgemäß versucht, möglichst nicht alleine irgendwo in einem fremden Land zu sein. Um im Leben neben der Arbeit nicht zu verkümmern, wollte man in der Nähe von Bekannten oder anderen Familienmitgliedern wohnen. So kam es überall im Land zu Clusterbildungen. In Rödermark ist dies die Region Hekimhan in der Provinz Malatya in Südostanatolien, aus der viele in Rödermark heimische Großfamilien ursprünglich herkamen. Hekimhan ist eine Kleinstadt mit knapp 8.000 Einwohnern, im gesamten Kreis wohnen auf einer Fläche fast sechsmal so groß wie der Kreis Offenbach lediglich rund 25.000 Menschen. Nach meinem Kenntnisstand haben über 200 Menschen aus Rödermark dort ihre Wurzeln. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass sich die Heimatvereine der im Ausland lebenden Hekimhaner und Kozderer (eine kleine Nachbargemeinde) in Rödermark gegründet und hier ihr Zentrum haben. Zwischen Rödermark und Hekimhan besteht also unzweifelhaft eine starke Verbindung. Folgerichtig ist auch nichts daran auszusetzen, wenn eine Delegation aus Rödermark Hekimhan besucht. Beim ersten Besuch war noch kaum Infrastruktur vorhanden, so dass eine mögliche Städtepartnerschaft selbst von Bürgermeister Roland Kern als unrealistisch angesehen wurde. Ende 2014 beschloss dann der Gemeinderat von Hekimhan, eine Städtepartnerschaft mit Rödermark anzustreben. Im Februar 2015 erreichte Bürgermeister Kern ein entsprechendes Schreiben mit der Bitte, dies aus Rödermärker Sicht zu prüfen. Im Frühjahr 2016 fuhr (bzw. flog) dann eine 10-köpfige Rödermärker Delegation nach Hekimhan und war sichtlich angetan von den Fortschritten in der Region. Die nun vorhandene Infrastruktur stünde einer Partnerschaft nicht im Wege. Kern berichte zwar ausführlich von der Reise, sprach aber bisher keine offizielle Empfehlung aus. Im Gegenteil, er versuchte die Diskussion über das Thema unter dem Teppich zu halten. Das Thema wurde lediglich einige Male im nicht-öffentlichen Ältestenrat angesprochen, eine öffentliche Diskussion wurde bisher vermieden. Selbst in der eigens gegründeten Kommission „Städtepartnerschaften“ kam das Thema Hekimhan noch nicht auf die Tagesordnung.
Aus meiner Sicht und der Sicht meiner Partei ist es 27 Monate nach Erhalt des Gesuchs aus Hekimhan an der Zeit, sich über eine Antwort Gedanken zu machen. Dies gebietet schon die Höflichkeit gegenüber den türkischen Gemeindevertretern. Die FDP hat sich dazu in den letzten Monaten und Jahren eine Meinung gebildet. Daher fanden wir es an der Zeit, dieses Thema an die Öffentlichkeit zu bringen und nicht länger im Untergrund schwelen zu lassen.

Ein deutliches Zeichen setzen – Nein zu einer offiziellen Städtepartnerschaft
Wie bereits gesagt sehe ich persönlich keinen großen Nutzen in einer weiteren Städtepartnerschaft und würde deshalb jede Initiative in diese Richtung – egal aus welchem Land sie kommt – zurzeit ablehnen.
Im Falle der Türkei kommen einige Besonderheiten hinzu. Seit dem Beschluss des Gemeinderates von Hekimhan hat sich die Türkei in rasanten Schritten hin zum schlechteren entwickelt. Demokratische Grundrechte werden mit Füßen getreten, die Rechtsstaatlichkeit darf angezweifelt werden. Auch ohne Verfassungsreform ist die Türkei schon fast bei einer Präsidialdiktatur angekommen.
Ein Beispiel: „Ich möchte der ganzen Welt ganz offen sagen, die Medien sind nirgendwo so frei wie in der Türkei“, erklärt Präsident Erdoğan im Brustton der Überzeugung. „Aber wir können jene, die sich an strafbaren Handlungen beteiligen, oder Terrororganisationen wie PKK oder die Gülen-Bewegung offen unterstützen, nicht für unschuldig erklären. Wir werden entschieden gegen jene vorgehen, die unter dem Deckmantel eines Medienvertreters für Terrororganisationen oder als Agent für ausländische Geheimdienste arbeiten.“ Die Realität: 156 Medienhäuser sind seit dem gescheiterten Putsch im Juli vergangenen Jahres geschlossen worden; 2500 Medienschaffende verloren ihren Job; rund 150 Journalisten sitzen im Gefängnis.
Sicherlich können die Menschen in Hekimhan nicht für die Handlungen ihres Präsidenten haftbar gemacht werden, man muss ihnen sogar zugute halten, dass sie mehrheitlich das Verfassungsreferendum nicht unterstützt haben – anders als Gesamtprovinz Malatya, die zu 70 % für Erdoğan stimmte.
Es tut mir leid, aber hier muss ich die Hekimhaner mit in die Kollektivhaft nehmen. Ich kann nicht so tun, als ob in der Türkei alles in Ordnung ist und jetzt eine Städtepartnerschaft beginnen. Das würde in meinen Augen einem Wegsehen gleichkommen. Und ich will nicht wegsehen. Ich will mit dieser Türkei, mit dieser Führung, so wenig wie möglich zu tun haben. Es ist nicht die Zeit, wo Deutschland oder ein kleiner Teil davon aktiv einen Schritt auf die Türkei zugehen muss. Es ist vielmehr die Zeit zu sagen: „Wenn ihr was mit uns zu tun haben wollt, dann müsst ihr euch besinnen und ändern, dann müsst ihr euren Präsidenten loswerden und eure Demokratie wieder zurückgewinnen“. Das kann Hekimhan sicher nicht alleine bewerkstelligen. Dann muss man eben warten. Jetzt ist definitiv nicht die Zeit für eine neue Städtepartnerschaft mit einer türkischen Stadt. Jetzt ist nicht die Zeit für ein „Jetzt erst recht“.
Dabei muss eines ganz klar sein: die Absage einer offiziellen Städtepartnerschaft ist keine Absage an die Menschen. Es spricht überhaupt nichts dagegen, den begonnenen freundschaftlichen Kontakt mit den Gemeinde- und Kreisvertretern aus Hekimhan aufrechtzuerhalten oder gar zu vertiefen. Man kann sozusagen gemeinsam auf bessere Zeiten warten. Ich sehe keinerlei zwingende Notwendigkeit, eine offizielle Städtepartnerschaft aufzubauen – schon gar nicht jetzt. Es gibt auch andere Wege des freundschaftlichen Miteinanders.
Zum Ende noch zwei weitere Argumente. Eine Städtepartnerschaft lebt von gegenseitigen Besuchen. Würden Sie derzeit als offizieller Vertreter einer Gebietskörperschaft gerne in die Türkei reisen? Ich nicht. Natürlich würde man mit seinen Gastgebern auch über die derzeitige Situation sprechen und natürlich würde ich klar meine Meinung äußern. Zum einen ist nicht klar, ob ich nach der Veröffentlichung eines solchen Statements überhaupt in die Türkei einreisen dürfte, zum anderen habe ich wirklich Zweifel, ob ich nach öffentlich geäußerter Kritik an Erdoğan und seinem System aus dem Land auch wie geplant wieder ausreisen dürfte. Diese Zweifel habe ich in Österreich (Saalfelden), Italien (Tramin) und Ungarn (Bodajk) nicht. Ob diese Zweifel gerechtfertigt sind oder nicht, sei dahingestellt, allein dass sie da sind reicht, um nicht in die Türkei zu fahren.
Man muss dazu auch folgendes Wissen: Die Türkei ist zentralistisch aufgebaut. Die Gouverneure der Provinzen werden nicht wie unsere Ministerpräsidenten gewählt, sondern vom Innenminister bestimmt und vom Präsidenten ernannt. Auch die Kaymakam, die Landräte, werden nicht gewählt, sondern vom Innenminister eingesetzt. Die Bürgermeister werden zwar vom Volk gewählt, haben aber keine eigenen Einnahmequellen, so dass ihre politische Autonomie sehr eingeschränkt ist und vom Goodwill der Landräte und Gouverneure abhängt. Seit dem Putschversuch wurden mehrere Hundert gewählte Bürgermeister abgesetzt, weil sie die PKK oder die Gülem-Bewegung unterstützten – also in der falschen Partei waren. Was garantiert uns, dass die Personen, die Rödermark 2016 noch gewogen waren, nicht auch ausgetauscht werden? Diese mögliche Willkür halte ich für weit problematischer als das Risiko des Wechsels der Ansprechperson durch Wahlen.
Ein letztes Argument: Die bereits seit 1971 bestehende Städtepartnerschaft zwischen Darmstadt und der südwesttürkischen Großstadt Bursa wird wegen des Konflikts um Wahlkampfauftritte von türkischen Politikern in Deutschland von der türkischen Seite bis auf Weiteres ausgesetzt. Kein Einzelfall. Türkische Städte kündigen aus rein politischen Gründen ein seit Jahrzehnten bestehende Städtepartnerschaft auf und das gallische Dorf Rödermark will parallel dazu eine neue Städtepartnerschaft begründen. Sorry, aber dafür fehlt mir das Verständnis. Nicht mit mir!

Die Reaktion der Vereine und des Magistrates auf unseren Antrag
Am Montag Morgen haben wir unseren Antrag eingebracht, am Dienstag und Donnerstag hat die regionale Presse über unsere Initiative berichtet und am Freitag wurde uns von der Stadt ein 1 ½-seitiges Word-Dokument zugestellt, ohne Briefkopf, völlig unformatiert und ohne namentliche Unterzeichner. Absender: der Deutsch Türkische Freundschaftsverein Rödermark e.V., der Ausländerbeirat der Stadt Rödermark, der Hekimhaner Verein in Europa e.V. und der Kozdere Verein in Europa e.V. Wir haben zwar erwartet, dass die Unterzeichner eine türkische Partnerstadt begrüßen würden und sich damit gegen unsere Initiative aussprechen. Eine so schnelle Reaktion hat uns allerdings schon verwundert. Stellt sich die Frage, wer tatsächlich die Initiative zu diesem Schreiben geleistet hat: einer der Vereine oder nicht doch der Bürgermeister selbst?
In diesem Brief werden schwere Vorwürfe gegen unseren Antrag erhoben. Wörtlich heißt es z.B.: „Dieser Antrag wird, wenn angenommen, die guten Beziehungen von Menschen in Rödermark stark negativ beeinflussen.“ Ja warum denn das? Kann mir irgendjemand irgendeinen Grund für so eine Behauptung nennen? So eine Aussage ist einfach nur dumm und gefährlich. Keiner der FDP hat je behauptet, mit türkischstämmigen Menschen nichts mehr zu tun haben zu wollen, warum sollte sich auch an der Beziehung zu einzelnen Menschen etwas ändern? Die Behauptung der Vereine kann allerdings sehr wohl als Aufforderung an die Migranten verstanden werden, bei Ablehnung einer Städtepartnerschaft mit Hekimhan auch die Ablehner abzulehnen.
In dem Brief wird behauptet, wir hätten unseren Antrag mit dem Referendum begründet. Auch das ist nicht richtig. Das Ergebnis des Referendums ist nur das i-Tüpfelchen, das letztendlich dafür gesorgt hat, jetzt diesen Antrag zu stellen und die zögerliche Haltung der Stadt zu beenden. Die Gründe sind, wie in diesem Blog erläutert, viel vielschichtiger. Ein Nein zu einer Städtepartnerschaft als eine Abstrafung der Hekimhaner Bevölkerung zu bezeichnen, ist schon ein starkes Stück, ein völlig überzogener und haltloser Vorwurf. Ich Maße mir nicht an, irgendjemanden abzustrafen, ich möchte nur glaubwürdig bleiben und in den Spiegel gucken können. Was ist daran eine Strafe für die Bevölkerung, wenn Hekimhan wie bisher auch kein Verschwisterungsschild am Ortseingang stehen hat? Es wird sich weder für die Hekimhaner noch für die Rödermärker aus Hekimhan irgendetwas ändern. Was soll also diese Panikmache?
Das Schreiben endet mit dem Satz: „Wir dürfen als Demokraten die Demokraten in Hekimhan nicht im Stich lassen, sondern sie noch mehr unterstützen“. Und was ist mit den Demokraten in Istanbul und Izmir, mit den Demokraten in Moskau und auf der Krim, in Aleppo, Teheran und Pjöngjang (Gut, dort wird man wohl wenige finden…)? Muss Rödermark die auch alle unterstützen? Rödermark kann nicht die Welt retten und sollte es auch gar nicht erst versuchen. Dazu sind die Probleme vor Ort schon groß genug. In meinen Augen lasse ich niemanden im Stich, nur weil ich der Anfrage des Gemeinderates von Hekimhan eine Absage erteile. In meinen Augen unterstütze ich die Demokraten in Hekimhan vielmehr dadurch, dass ich klare Kante zeige und der undemokratischen Führung des Landes klar mache, dass sie sich nicht alles erlauben kann, dass nicht alle Taten von Erdogan und Konsorten ohne Konsequenzen bleiben. Und wenn die Konsequenz nur ist, dass Rödermark keine neue Städtepartnerschaft eingeht.

Dr. Rüdiger Werner
Rödermark, 2. Mai 2017
Anmerkung: Dieser Blog wurde vor der Diskussion in den Ausschüssen und der Abstimmung in der Stadtverordnetenversammlung verfasst.

Blogbeitrag

Hessen (Im)Mobil und die verlorene Freiheit im Straßenverkehr

Hessen (Im)Mobil und die verlorene Freiheit im Straßenverkehr
Bei diesem Blog möchte ich gleich am Anfang noch einmal betonen, dass es sich um meine persönliche Meinung handelt und nicht um eine abgestimmte Meinung der FDP. Ich bin auch gerne bereit, für diese Meinung, die an der einen oder anderen Stelle die political Correctness verlässt, Prügel zu beziehen. Ich stehe zu meiner Meinung.

Eine liberale Grundeinstellung heißt für mich auch, dass ich für die größtmögliche persönliche Freiheit einstehe. Die Freiheit, Dinge selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu tun und nicht bevormundet zu werden. Dies gilt auch für den Straßenverkehr.

Zu viele Gebote und Verbote
Im Grunde genommen ist jedes Verkehrszeichen, dass ein Gebot oder Verbot darstellt, erst einmal mit einer Einschränkung meiner persönlichen Freiheit verbunden. In Deutschland gibt es meiner Meinung nach viel zu viel solcher Einschränkungen, wie in fast keinem anderen Land wird der Autofahrer hierzulande durch die Verkehrsbehörden entmündigt.

Weiterlesen „Hessen (Im)Mobil und die verlorene Freiheit im Straßenverkehr“
Blogbeitrag

Arbeitsmarkt für Erzieherinnen oder: Mehr Geld für gleiche Arbeit?

Für Blogartikel sind die jeweils benannten Autoren allein verantwortlich.
Für Blogartikel sind die jeweils benannten Autoren allein verantwortlich.

Arbeitsmarkt für Erzieherinnen oder: Mehr Geld für gleiche Arbeit? – Von Dr. Rüdiger Werner

Dr. Rüdiger Werner
Dr. Rüdiger Werner

Es ist richtig: der Arbeitsmarkt für Erzieherinnen ist weitestgehend leergefegt. Der Bedarf an Erziehern und Erzieherinnen ist in den letzten 10 Jahren massiv angestiegen – und das trotz sinkender Kinderzahlen. Während vor 10 Zahlen grob gesagt 1/3 der Kindergartenkinder einen Ganztagsplatz benötigten, sind es heute rund 2/3. Dazu kommt der Aufbau einer U3-Betreuung von unter 10 % auf heute um die 40 %. Die Folgen sind klar: arbeitslose Erzieher gibt es nicht mehr, es wird immer schwieriger, neue Kindertagesstätten mit Fachpersonal zu besetzen, gute Erzieher können sich ihren Arbeitsplatz zurzeit aussuchen.
Die Kehrseite der Medaille ist: aus der Not heraus werden auch solche Fachkräfte genommen, die ihren Abschluss nur mit Mühe geschafft haben, die vor 10 Jahren noch keinen Job bekommen hätten. Es ist ein Gesetz in Wirtschaft und Gesellschaft: steigt die Nachfrage sehr stark, sinkt auch immer die Qualität der nachgefragten Ware.

Die Gesellschaft ist im Wandel. Immer mehr Erziehungsarbeit wird von den Eltern auf die Gesellschaft übertragen, Erzieher und Pädagogen werden mit immer mehr Dingen konfrontiert, die früher das Elternhaus erledigt hat. Ein Beispiel: Zur meiner Kindergartenzeit gab es das nicht, dass ein Kindergartenkind noch nicht sauber war. Heute werden viele Kinder mit Pampers in den Kindergarten gebracht nach dem Motto: Liebe Erzieherinnen, seht mal zu, dass ihr mein Kind sauber bekommt.
Die Anforderungen an Erzieher und Pädagogen steigen also, die Qualitätsansprüche der Eltern sind hoch und die sollen jetzt durch kaum 20-jährige nach einer kurzen Ausbildung erfüllt werden? Das soll nicht heißen, dass alle staatlich anerkannten Erzieher nach Beendigung ihrer Ausbildung schlecht sind. Es soll nur auf ein Problem hinweisen. Der Beruf eines Erziehers/einer Erzieherin ist mit seinen Verdienstmöglichkeiten nur für wenige Abiturienten erstrebenswert. Es ist ein Fakt, dass die Zahl der Realschulabgänger seit Jahren rückläufig ist (eben weil die auch von den Verdienstmöglichkeiten interessanteren Berufe fast alle Abitur oder eine universitäre Ausbildung verlangen) und das zusätzlich das Leistungsniveau der Abgänger sinkt. Es wäre also blauäugig darauf zu vertrauen, dass der Markt die momentane Angebotsschwäche an Arbeitskräften von alleine regelt. Der Mangel wird bleiben. Auch ein Grund, warum es sehr schade finde, dass die Möglichkeit, im Erziehungsbereich auch Personal ohne Fachabschluss einzusetzen, in der verabschiedeten Version des Hessischen Kinderförderungsgesetzes wieder gestrichen wurde. Im Gegensatz zu Gewerkschaft und SPD bin ich nämlich der Meinung, dass diese Option die Qualität erhöht hätte. Darauf komme ich später noch einmal zurück.

Aber kommen wir zum eigentlichen Thema: zum Geld. Um den aufkommenden Fachkräftemangel im Erziehungsbereich entgegenzuwirken, hat der Erste Stadtrat Jörg Rotter vorgeschlagen (was nun von der Koalition auch beantragt wurde), das Gehalt aller Erzieherinnen um 2 Besoldungsstufen (entspricht der nächst möglichen höheren Eingruppierung) zu erhöhen. Ist das der richtige Weg?
Meine klare Antwort lautet: nein! Gesellschaftspolitisch ist das absurd, für Rödermark zum Teil verständlich und vielleicht langfristig sogar unvermeidlich, aber am Ende die definitiv falsche Entscheidung.
Die Marktwirtschaft führt hier in einem gesellschaftspolitischen Bereich zu einer Schieflage, die nicht gewollt ist und nicht sein darf. Fakt ist, wir haben einen Nachfragemarkt, d.h. ein Erzieher kann sich seine Stelle aussuchen. Seiner Wahl liegen verschiedene Kriterien zugrunde: Nähe zur Wohnstätte, Arbeitsbedingungen, soziales Umfeld, aber auch die Verdienstmöglichkeiten. Um die besten Köpfe in ihre Städte zu locken und einen Wettbewerbsvorteil zu haben, haben Städte, die es sich leisten können (wie z.B. Frankfurt und Neu-Isenburg), begonnen, mit höheren Gehältern zu locken – S8 statt S6 zum Beispiel. Das erhöht die Schwierigkeiten der umliegenden Gemeinden, geeignetes Personal zu finden zusätzlich. Um nicht abgehängt zu werden, erhöhen auch sie die Gehaltsgruppe – ob sie es sich leisten können oder nicht. So setzt sich diese Gehaltssteigerungswelle immer mehr ins Umland fort, bis der Vorteil der Initiatoren komplett weg ist und Frankfurt und Neu-Isenburg als Beispiel erneut die Gehälter anheben, um wieder einen Vorteil zu erhalten. Eine Gehaltsspirale wird in Gang gesetzt, die niemanden etwas bringt (außer den Erziehern). Einige Kommunen werden auf der Strecke bleiben, die Qualität in ihren Betreuungseinrichtungen wird abnehmen, Menschen werden abwandern. Durch eine Gehaltserhöhung wird nicht die Menge der insgesamt zur Verfügung stehenden Erzieher erhöht. Das Problem wird nur verlagert. Man kann als Kommune nur versuchen, bei der Verteilung der Arbeitskräfte durch höhere Anreize nicht zu den Verlierern zu gehören.
Die Gehaltserhöhungen führen also lediglich zu einem Kannibalismus unter den Kommunen, die Kommunen schaden sich mit dieser Politik letztendlich selber, weder die Quantität noch die Qualität der Betreuung nimmt dadurch zu.

Qualität hat ihren Preis, aber mit dieser Politik steigert man nicht die Qualität. Die Qualität würde man steigern, wenn man dem Erziehungsberuf mehr Anerkennung schenkt, wenn man die Ausbildung verbessert, wenn man die Ausbildung akademisiert, die Qualifikation verbessert. Heute reichen die mittlere Reife und eine dreijährige Ausbildung mit Betriebspraktikum, in anderen Ländern braucht man Abitur und ein dreijähriges Fachhochschulstudium mit anschließendem Praktikum. Erzieher ist dort ein Studienberuf mit entsprechender Bezahlung. Je höher die gesellschaftliche Anerkennung in Tateinheit mit der Entlohnung, desto höher auch der Anreiz auf junge Leute, diesen Berufsweg einzuschlagen. Richtig ist: auch heute kann man schon Erziehungswissenschaften studieren. Richtig ist aber auch: diese Personen würden nicht für S6 oder auch S8 arbeiten (S8 in der Stufe 1 sind 2330 € brutto, in der Stufe 6 immerhin auch 3540 €), denen müsste man schon etwa A10 bieten (2760 € – 4060 € bei den Gemeinden und 2790 € – 4010 € (Stufe 5) bei den Lehrern). Macht kaum eine Kommune freiwillig, weshalb der Arbeitsmarkt für Erzieher mit Hochschulabschluss sehr eng ist. Hier kann nur der Gesetzgeber gegensteuern.
Hier handelt es sich um die wichtigste gesellschaftspolitische Aufgabe, die Erziehung unserer Kinder. Wir vertrauen dieser Berufsgruppe unser wertvollstes Gut an, unsere Kinder. Die frühkindliche Bildung ist für die Entwicklung unserer Kinder von höchster Bedeutung. Bei entsprechender Ausbildung und Qualifikation bin ich gerne bereit, über deutlich höhere Gehälter zu sprechen. Warum nicht Erzieher in den Kindertagesstätten und Grundschullehrer in etwa gleichsetzen? Wo ist der Unterschied in der Verantwortung?
Aber hiervon lässt die Politik bisher ihre Finger. Warum? Weil es sich um einen langwierigen Prozess handelt, dessen positiven Ergebnisse erst weit nach dem nächsten Wahltermin sichtbar werden? Weil man damit in der 30-Jährigen Übergangsphase eine Zweiklassengesellschaft schaffen würde – Erzieher mit Studium und Erzieher ohne Studium – und die damit verbundenen Probleme umgehen mag? Weil die Lehrerlobby Angst hat, ihren Status zu verlieren, wenn die Erzieher zu ihnen aufschließen? Ich weiß es nicht. Ich meine dennoch, es wäre eine mutige und richtige Entscheidung.

Der Vorschlag von Jörg Rotter würde Rödermark über 200.000 € jährlich kosten, was in der derzeitigen Situation unverantwortlich erscheint. Was nötig wäre, wäre ein Agreement der Kommunalverbände, geschlossen nicht an der Gehaltsschraube zu drehen, um diesen für viele Kommunen verheerenden Prozess zu stoppen bzw. erst gar nicht in Gang zu setzen. Ja, es ist richtig, wenn alle umliegenden Kommunen mehr bezahlen, ist Rödermark faktisch gezwungen mitzuziehen. Aber warum muss sich diese Höhergruppierung auf den Bestand auswirken? Warum nicht einfach bei Neubesetzungen die höhere Gruppierung anbieten und den Bestand so lassen? Man könnte damit zwar wohl 90 % der Zusatzkosten der nächsten 5 Jahre einsparen, wird es aber aus Gründen des Betriebsfriedens nicht machen. Auch verständlich. Aber wäre es nicht auch ungerecht gegenüber anderen Mitarbeitergruppen, wenn nur eine Gruppe zusätzlich zu den normalen Tarifvertragsgehaltserhöhungen mehr Geld bekommen würde? Warum nicht auch die Mitarbeiter vom Bauhof? Oder die im Bürgerbüro? Es wäre so oder so ein Unikum, wenn eine hochverschuldete Stadt von sich aus, ohne Zwang von außen, die Gehälter von über 100 Mitarbeitern heraufsetzen würde.
Ich möchte noch auf ein weiteres Problem aufmerksam machen. Heute hat eine Erzieherin 3 Möglichkeiten, ihr Gehalt zu steigern: a) Sie hofft auf für sie gute Tarifabschlüsse, b) sie wird älter und kommt in eine höhere Stufe und c) sie erwirbt sich Zusatzqualifikationen (bilinguale Erziehung, Erziehung von Kindern mit Behinderung, Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten usw.). Damit kann man heute einen Aufstieg von S6 auf S8 oder gar S10 begründen (bei Erziehern mir Leitungsfunktion von S7 z.B. auf S9). Mit dem jetzt vorliegenden Vorschlag wird das Leistungsprinzip ‚mehr Qualifikation = mehr Gehalt’ außer Kraft gesetzt, es fehlt ein wichtiger Anreiz für Fortbildungen und Weiterqualifikationen, was bei den steigenden Anforderungen an die Berufsgruppe in die falsche Richtung geht.

Es gibt also viele Gründe, den jetzt eingeschlagenen Weg – einfach mehr Geld zu zahlen – für falsch zu halten. Welchen anderen Weg gäbe es, das Fachkräftemangelproblem zu lösen? Wie ich vorhin bereits gesagt habe, ist das Geld nur eines von vielen Kriterien für die Wahl einer Arbeitsstätte. Das Umfeld ist ein fast genauso wichtiges. Wie ist das Arbeitsklima? Wie ist die Flexibilität in Bezug auf Arbeitszeit? Kann mir der Arbeitgeber eine gewisse Vielfalt in den Tätigkeiten bieten? Gibt mir der Arbeitgeber die Möglichkeit, mich fortzubilden, Zusatzqualifikationen zu erwerben? Finanziert er mir diese vielleicht sogar? Ich weiß nicht, ob und in welchem Umfang diese Punkte in Rödermark zur Anwendung kommen, aber hier bietet sich für weniger Geld die Möglichkeit, einen Wettbewerbsvorteil zu erlangen und auf der anderen Seite sogar noch die Qualität des Personals zu erhöhen.
Ein anderes Beispiel: in der Mitte des vorigen Jahrzehnts waren in einigen Fächern die Lehrer knapp, das Angebot konnte die Nachfrage bei weitem nicht decken. Nun kommt es nicht so gut, wenn man nur jede 3. Klasse in Physik unterrichtet. Also musste man sich als Land eine kreative Lösung einfallen lassen. Es wurden verschiedene Quereinsteiger­programme aufgelegt. So durften plötzlich auch Menschen, die bestimmte Qualifikationen mitbrachten aber nicht über 2 Staatsexamen verfügten, an den Schulen unterrichten. Und es meldeten sich genügend. Nur so konnte der Unterricht in Chemie, Physik, Informatik, Spanisch, Musik und Religion in der Zeit des Mangels aufrecht erhalten werden. So verfügen zurzeit z.B. weniger als die Hälfte der an der Nell-Breuning-Schule eingesetzten Physik- und Chemielehrer über eine normale Lehrerausbildung. Möglicherweise erreichen die Quereinsteiger nicht ganz das Niveau der ausgebildeten Fachlehrer. Das kann und will ich nicht beurteilen und hängt sicherlich von den Einzelpersonen ab. Aber selbst ein klein wenig schlechterer Unterricht ist besser als kein Unterricht. Dies wäre aus meiner Sicht genauso auf die Kindertagesstätten übertragbar. Würde man den Markt für Kräfte ohne die entsprechende Berufsausbildung öffnen – so wie es die Ursprungsversion des hessischen KiFöGs vorgesehen hat, könnte man den Mangel schnell beheben. Ich bin überzeugt, der Markt hat genügend erfahrene Personen auf Lager, die gerne in den Kindertagesstätten arbeiten wollen und das auch ohne Zweifel könnten. Man lässt sie nur nicht. Die freien Träger dürfen z.B. neben den staatlich anerkannten Erziehern auch ausgebildete Kinderpfleger einstellen. Das nimmt ihnen einen gewissen Druck aus dem Markt. Hat sich schon jemand über die mangelnde Qualität der U3-Einrichtung in der Bruchwiesenstraße beschwert, die meines Wissens nach zur Hälfte mit Kinderpflegern arbeitet? Nein! Es gibt auch keinen Grund dafür. Ich bin fest davon überzeugt: Hätte man den Passus, das bis zu 20 % fachfremde Kräfte in den Kitas arbeiten dürfen, nicht aus dem neuen KiFöG gestrichen, würden wir heute nicht über eine freiwillige Gehaltsaufstockung von S6 auf S8 diskutieren!

Falls bei der Lektüre dieses Exkurses der Eindruck entstanden sein sollte, ich würde den Erzieherberuf nicht achten und die Rödermärker Kinder würden von einem Haufen gerade der Pubertät entschlüpften, unterqualifizierten Gören betreut, die gerade so mit schlechten Noten die Ausbildung abgeschlossen haben, dem sei gesagt: das ist definitiv nicht so!! Es mag wie überall wenige solcher Einzelfälle geben, aber wir können uns glücklich schätzen, dass alle Kindertagesstätten über viele erfahrene Erzieherinnen (leider viel zu wenig Erzieher) verfügen, die ihren Aufgaben gewachsen sind und denen man guten Gewissens seine Kinder anvertrauen kann. Ich würde die Qualität (noch) als überdurchschnittlich hoch bezeichnen. Aber ob diese gehalten werden kann, wenn in den kommenden Jahren einige gestandene Fachkräfte in den Ruhestand gehen, erscheint fragwürdig. Insofern möchte ich dem Stadtrat auch keinen Vorwurf machen, dass er dieses aufkommende Problem frühzeitig erkannt hat und es angehen will. Ich halte nur seinen Lösungsvorschlag für den falschen, da er in meinen Augen Rödermark nur viel Geld kosten und am Ende weder quantitativ noch qualitativ etwas bringen wird.
Auch bin ich grundsätzlich der Meinung, dass der ErzieherInnenberuf aufgewertet gehört, auch finanziell an die gestiegene Verantwortung der Berufsgruppe angepasst wird. Aber bitte innerhalb eines Gesamtpaketes und nicht in einem kommunalen Alleingang.

Letzte Anmerkung: wie bei allen meinen Blogs habe ich mir bei Berufsbezeichnungen und ähnlichem die Nennung beider Geschlechtsformen geschenkt. Meine Blogs sind auch so schon lang genug und müssen nicht durch Wortverdoppelungen künstlich aufgebläht werden. Dafür mögen mich Feministinnen verurteilen (weil ich meist die männliche Form benutzt habe), aber dazu stehe ich, hier werde ich mich auch nicht mehr ändern. Ich finde das große „I“ mitten im Wort (wie exemplarisch im letzten Absatz einmal verwendet) furchtbar und nehme mir die Freiheit, darauf zu verzichten. Ich bitte das zu entschuldigen.

Dr. Rüdiger Werner
Rödermark, im Februar 2014

Blogbeitrag

Deutsche Familienpolitik – Augen zu und durch?

Für Blogartikel sind die jeweils benannten Autoren allein verantwortlich.
Für Blogartikel sind die jeweils benannten Autoren allein verantwortlich.

Deutsche Familienpolitik – Augen zu und durch? – Von Dr. Rüdiger Werner

Dr. Rüdiger Werner
Dr. Rüdiger Werner

Deutschland hat ein Problem. Ein großes gesellschaftliches Problem. Wir stellen Familienpolitik an oberste Stelle, pumpen Milliarden von Steuergeldern in die Familienförderung, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, in den Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen und was ist der Erfolg? Wir haben von allen westeuropäischen Industrienationen die niedrigste Geburtenrate! Wir reproduzieren uns nicht, wir schaffen uns langfristig selber ab.

Hier die erschreckenden aktuellen Zahlen:

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Was ist die Antwort der Politik? – Noch mehr Geld für Familien, noch mehr Kinderbetreuungseinrichtungen. Das machen wir schon seit Jahrzehnten, aber mit welchem Erfolg? Mit keinem! Die Fertilitätsrate verweilt schon seit 3 Jahrzehnten bei 1,4 ± 0,1. In allen westlichen und nördlichen Nachbarländern ist sie dagegen angestiegen. Warum steigt die Geburtenrate in vergleichbaren Ländern mit vergleichbarer Ausgangssituation und in Deutschland verharrt sie auf zu niedrigem Niveau? Bevor ich weitere Milliarden an Steuergeldern in ein System pumpe, was keinerlei Erfolge aufzuweisen hat, würde ich doch einmal genau untersuchen, was unsere Nachbarländer anders machen, was sie besser machen. Am Geld kann es nicht liegen, denn hier liegt Deutschland schon im vorderen Drittel der Länder. Auch an den Kosten für Betreuung und Bildung kann es nicht liegen, denn viele Bekannte mit Auslandserfahrungen haben mir erzählt, dass sie überall deutlich mehr Betreuungsgebühren für ihre Kinder zahlen mussten als bei uns, teilweise bis zu 800 € im Monat.
Mein Ansatz für eine erfolgreiche Familienpolitik, für ein wirklich kinderfreundliches Deutschland wäre daher ganz einfach: von den Nachbarn lernen. Eine umfangreiche detaillierte Studie über die Konzepte der Nachbarländer, was diese gekostet haben und welche Erfolge sie brachten. Darauf folgend die Überlegung, ob und wie die besten und erfolgreichsten Ansätze der Nachbarn auf Deutschland übertragbar sind. Man muss das Rad nicht immer neu erfinden.
Ich bekomme zwar mit Sicherheit nicht alle durchgeführten Studien mit, viele aber schon. Noch nie habe ich eine umfassende Studie zu diesem elementaren Thema gelesen bzw. von ihrer Existenz gehört. Man hört immer nur als Erklärung für unsere kinderarme Gesellschaft: Kinder seien zu teuer, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist oftmals sehr schwierig. Mag sein, dass Kinder ihren Preis haben, aber auch die französischen und britischen Kinder kosten Geld, auch die Franzosen und Briten müssen arbeiten und bekommen trotzdem deutlich mehr Kinder. Das alleine als Ursache zu betrachten, ist viel zu einfach und billig.

Ich möchte es mal ein wenig provokativ darstellen und wähle daher im folgenden einen eher technischen Ansatz. Ein Staat wird gemeinhin definiert als System der öffentlichen Institutionen zur Regelung der Angelegenheiten eines Gemeinwesens. Aber er steht auch für die Verwirklichung der moralischen Ziele des Einzelnen und der Gesellschaft. Ein oberstes Ziel eines Staates ist der Selbsterhalt. Es ist also eine der wesentlichen Aufgaben des Gemeinwesens Staat darauf zu achten, dass seine Bürger genügend Nachkommen produzieren, um die Fortführung des Staates zu gewährleisten.
Der oberste Daseinszweck eines jedes biologischen Wesens (zu denen auch der Mensch gehört) ist die Fortpflanzung und damit die Reproduktion, der Arterhalt, die Weitergabe der eigenen Gene. Bis vor wenigen Jahrzehnten hat sich der Mensch auch daran gehalten. Kinder sorgten nicht nur für einen Fortbestand der eigenen Gene, sie hatten auch den wichtigen Nebeneffekt, für die Eltern zu sorgen und so deren Leben zu verlängern, wenn diese sich nicht mehr selbst versorgen konnten (die Gefahr der Überreproduktion und deren Auswirkungen auf das Ökosystem Erde möchte ich an dieser Stelle bewusst ausblenden, das ist ein anderes umfangreiches Thema). In den letzten 40 Jahren hat sich das in vielen Industrienationen radikal geändert. Oberster Daseinszweck ist nicht mehr die Erhalt der Art, sondern die Selbstverwirklichung des Einzelnen. Die Gemeinschaft, gerne auch als ‚der Steuerzahler’ bezeichnet, sorgt für den Unterhalt in schwierigen Lebenssituationen sowie im Alter, Kinder werden dafür nicht mehr benötigt und sind für viele Bürger bzgl. ihrer Selbstverwirklichung eher lästig, die Kinderzahl sinkt deutlich unter das für den Selbsterhalt nötige Maß.
Somit ist eine der wesentlichen Aufgaben des Staates in Gefahr, der Staat muss eingreifen und Anreize schaffen, damit seine Bürger genügend Nachkommen zeugen, um den Fortbestand des Staates zu gewährleisten. Womit wir wieder bei der Familienpolitik sind. Das primäre Interesse des Staates kann es nicht sein, Eltern das Leben zu erleichtern und sie mit viel Geld zu unterstützen auf Kosten der Allgemeinheit. Das Interesse des Staates darf lediglich sein, dass es genügend Kinder zum Selbsterhalt gibt. Wenn dies nur dann der Fall ist, wenn man Eltern das Leben erleichtert und mit viel Geld unterstützt, ist das legitim, es würde dem Staat dienen. Wenn die Ziele des Staates aber trotz der hohen Kosten für die Allgemeinheit nicht erreicht werden, stellt sich die Sinnfrage: warum geben wir hier so viel Geld aus? Wäre es anderswo zum Wohle der Allgemeinheit nicht besser eingesetzt?

Sicherlich kann man die Wirkung eines Konzeptes nicht exakt im Voraus abschätzen, Familienpolitik ist langfristig angelegt, es kann schon einmal 10 oder 15 Jahre dauern, bis man sagen kann, ob sich eine Investition lohnt oder nicht. Daher möchte ich auch den Regierungen nicht das Recht absprechen, hier Dinge auszuprobieren. Aber man muss dann auch nach 15 Jahren mal den Mut haben, eine Transferleistung wieder abzuschaffen, wenn sie nicht den gewünschten Erfolg zeigt. Die deutsche Familienpolitik zeigt definitiv nicht den gewünschten Erfolg, viel zu viel wird am Geld festgemacht.

An dieser Stelle möchte ich den Bogen zurück zur Kommunalpolitik schlagen. Denn der größte Ausgabeposten einer Kommune wie Rödermark ist die Familienpolitik, die Finanzierung und Bereitstellung von Betreuungsplätzen für Kinder von 0-10 Jahren. Nachdem objektiv festgestellt werden muss, dass die deutsche Familienpolitik ineffizient ist, muss man sich auch die Frage stellen, ob die Sonderstellung der Familienpolitik auf kommunaler Ebene noch aufrecht erhalten werden kann und sollte. „Wir kürzen überall, nur nicht bei den Kindern“ hört man allenthalben. Wenn ich sehe, welche anderen wesentlichen Aufgaben einer Kommune dadurch ihrer Ressourcen entzogen werden, was alles nicht mehr möglich ist, weil alles Geld in die Kinderbetreuung gesteckt wird, dann ist es aus meiner Sicht legitim zu sagen: die Schmerzgrenze ist erreicht. Wir stoppen hier.
Dabei muss man gut auseinander halten: Die kommunalen Betreuungsausgaben sind zum einen Bestandteil der Familienpolitik (Anzahl der Plätze, Öffnungszeiten, Kosten der Plätze), aber zum anderen auch Bestandteil der Bildungspolitik (Erziehung, Qualität der Betreuung), was eine genauso wichtige Aufgabe des Staates ist. Ein Staat kann die nötigen Mittel zur Finanzierung seiner Aufgaben und damit zum Erhalt der Gemeinschaft am einfachsten mit gut ausgebildeten Bürgern erreichen. D.h. egal, wie viele Nachkommen ein Gemeinwesen hervorbringt – der Staat sollte für deren bestmögliche Bildung sorgen!
Das ‚Stopp’ bei den Betreuungskosten bezieht sich also nur auf den familienpolitischen Teil. Solange die Wirksamkeit der Maßnahmen nicht nachgewiesen ist, bin ich nicht mehr bereit, noch mehr Mittel hierfür bereitzustellen. Im konkreten heißt das: kein weiterer Ausbau der Kapazität, keine Erweiterung von Betreuungszeiten ohne vollständige Kostenübernahme von der Nachfrageseite.
Gerade im Bereich der Kleinkindbetreuung bin ich der Meinung, dass vom Staat genug getan wird, dass Eltern ihr Kind bis zum 3. Lebensjahr selbst betreuen und erziehen können. Finanziell ist das für die allermeisten (mit einigen Abstrichen) möglich und sollte moralisch über der Selbstverwirklichung stehen. Bei monatlichen Kosten von rund 270 € ist leider vielen Eltern die Selbstverwirklichung wichtiger als die Kindeserziehung. Es gibt doch nichts Spannenderes als mitzuerleben, wie seine Kinder langsam groß werden. Das kann man aber nicht, wenn man diese um 8 Uhr morgens abgibt und um 17 Uhr wieder einsammelt. In dieser entscheidenden Prägephase sollten die Kinder viel mehr Zeit mit ihren Eltern verbringen dürfen, was ja meist mit einer Individualförderung gleichkommt und damit der Gruppenförderung in einer Betreuungseinrichtung überlegen ist. Natürlich darf man auch hier nicht pauschalisieren, natürlich gibt es auch Kinder, für die eine staatliche Erziehung besser ist als die familiäre. Kleinkindbetreuung hat auch eine soziale Komponente. Man hat als Eltern einen Austausch mit anderen Eltern, die Kinder lernen den Umgang mit anderen Kindern, lernen auch von diesen, was später immer wichtiger wird. Aber das bekommt man auch in privaten Krabbeltreffs oder bei stundenweiser Betreuung mit. Ganztagsplätze von 7-17 Uhr sind dazu nicht erforderlich.

Bevor man mir diesen Teil wieder falsch auslegt, möchte ich das gleich klarstellen. Ich bin Mitglied einer liberalen Partei, selbstverständlich soll sich jeder Staatsbürger im Rahmen seiner Möglichkeiten selbst verwirklichen können. Der Staat sollte sogar alles tun, dafür die besten Rahmenbedingungen zu schaffen. Aber es ist nach meiner Auffassung nicht Aufgabe des Staates, dieses persönliche Streben des Einzelnen nach seinem Lebensglück auch komplett zu finanzieren. Daher nochmals: der Staat setzt nur die Rahmenbedingungen für die Selbstverwirklichung durch Eigenverantwortung.

In den letzten Jahren ist die Nachfrage nach solchen Ganztags-U3-Plätzen enorm angestiegen, auch weil die Kosten dafür bei vielen Eltern weit unter der Schmerzgrenze lagen. Ich würde daher dafür plädieren, den Elternanteil an den Kosten nochmals deutlich zu erhöhen, z.B. auf 400 € im Monat. Auch 500 € wären für mich denkbar. Für finanzschwache Familien, die wirklich auf so einen Platz angewiesen sind, muss es natürlich Zuschussprogramme geben. Aber ich bin überzeugt, dass sich mit dieser Subventionskürzung die Nachfrage deutlich senken lassen würde und der Druck, von Seiten der Kommune für weitere Plätze zu sorgen, wahrscheinlich verschwunden wäre.
Nun werden einige sagen, Eltern, die Arbeiten erbringen eine Wirtschaftsleistung, generieren damit auch Steuereinnahmen für den Staat, die dann wegfallen würden, wenn sich ein Elternteil wieder ganztägig um das eigene Kind kümmern würde. Das ist sicherlich richtig, aber bei wie vielen Eltern gleicht dieser Beitrag die direkten Kosten der Kleinkindbetreuung für die öffentliche Hand von rund 1500 € im Monat aus?

Fazit: In der deutschen Familienpolitik müssen alternative Wege gedacht werden, das Ergebnis muss mehr im Mittelpunkt stehen. Die Wege dazu lauten: von den Nachbarn lernen, wie die Gesellschaft auch in der Praxis kinderfreundlicher werden kann, so dass 3 oder mehr Kinder wieder als normal angesehen werden. Dazu müssen die Kosten der Familienpolitik, insbesondere die der Kinderbetreuung transparenter und bewusster gemacht werden. Ich würde daher den Eltern sowohl für die Kindertagesstätten als auch für Schule und Hort Jahresrechnungen ausstellen. Die Betreuung von Ihrem Kind hat 2014 Kosten in Höhe von XY € verursacht. Davon trägt die Kommune 75 %, 10 % kommen vom Land und ihr Anteil beträgt 15 %, d.h. YX €. Der Schulbesuch ihres Kindes verursachte 2014 kosten in Höhe von XYZ €. Ihr Anteil an diesen Kosten beträgt: 0 €. Die Bewusstseinsschaffung ist den damit verbundenen Verwaltungsaufwand sicher wert.
Wann kann und sollte das Rad nicht mehr zurückdrehen, die Wirtschaft des Staates ist darauf angewiesen, dass vielleicht 80 % der Personen im erwerbfähigen Alter auch einer bezahlten Arbeit nachgehen und nicht mehr 60 % wie noch vor 30 Jahren. Dass sich auch hohe Erwerbsquoten mit höheren Kinderzahlen in Einklang bringen lassen, zeigen unsere skandinavischen Nachbarn. Wir müssen nur die richtigen Wege und Mittel finden.

Dr. Rüdiger Werner
Rödermark, im Februar 2014

Blogbeitrag

Gewerbesteuer – noch zeitgemäß?

Für Blogartikel sind die jeweils benannten Autoren allein verantwortlich.
Für Blogartikel sind die jeweils benannten Autoren allein verantwortlich.

Gewerbesteuer – noch zeitgemäß? – Von Dr. Rüdiger Werner

Dr. Rüdiger Werner
Dr. Rüdiger Werner

Viele Politiker fordern seit Jahren die Abschaffung der Gewerbesteuer. Einige, wie die von meiner Partei, weil sie die Wirtschaft entlasten wollen. Andere, weil sie Ungerechtigkeiten mit sich bringt und die Schere bei den Unterschieden der Leistungsfähigkeit der Kommunen durch sie zu weit auf steht. Fakt ist: die Gewerbesteuereinnahmen von Kommunen sind sehr unterschiedlich. Bei den deutschen Großstädten lag die Spanne nach Abzug der Gewerbesteuerumlage 2012 zwischen 2947 €/Einwohner (Wolfsburg) bzw. 1848 €/EW (Frankfurt) und 202 €/EW (Wilhelmshaven) bzw. 183 €/EW (Halle). Demzufolge variieren auch die gesamten Steuereinnahmen pro Einwohner zwischen 522 € (Halle) und 3611 € (Wolfsburg). Der Schnitt liegt übrigens bei 1.208 €. Die Unterschiede bei den Einnahmen aus der Einkommensteuer sind bei weitem nicht so groß: 599 € (München) und 190 € (Leipzig). Bei der Grundsteuer B lagen sie zwischen 279 € (Hannover, Hebesatz 600 %) und 94 € (Jena, Hebesatz 460 %).
Bei ähnlichen Pflichtaufgaben stehen den Kommunen durch die Gewerbesteuer deutlich unterschiedliche finanzielle Mittel zur Verfügung. Dies führt zu großen Ungerechtigkeiten. Einige wenige gewerbesteuerreiche Kommunen „schwimmen“ im Geld, können sich alles leisten (viele öffentliche Gebäude, hohen Personalstand, hohe Gehälter, niedrige Gebühren und Steuersätze), während andere, z.T. benachbarte Kommunen Mitarbeiter entlassen müssen und mit den vorhandenen Mitteln ihre Pflichtaufgaben nicht mehr erfüllen können. Aus diesem Aspekt heraus muss das System Gewerbesteuer dringend und schnellstens reformiert werden. Ein weiteres Problem der Gewerbesteuer ist ihre hohe Volatilität. Keine andere Einnahmequelle ist so sehr von der wirtschaftlichen Entwicklung abhängig, ist so starken Schwankungen unterworfen. Viele Kommunen sind außerdem sehr stark von wenigen großen Gewerbesteuerzahlern abhängig. Geht es denen plötzlich schlecht, verlegen sie Ihren Sitz, stehen die Kommunen vor dem Nichts. Ihre Finanzplanung sieht Kontinuität vor, ein kommunaler Haushalt ist maximal im niedrigen einstelligen Prozentbereich flexibel. In Wolfsburg z.B. stammen über 80 % der Gewerbesteuereinnahmen von einer Firma. So wird die Gewerbesteuer in wirtschaftlich guten Jahren von den Kämmerern geliebt, da sich nirgendwo sonst so schnell so bedeutsame Mehreinnahmen generieren lassen. In schlechten Jahren wird sie dagegen gehasst, da die ganze Finanzplanung im negativen Sinne über den Haufen geworfen wird.
Deutschlandweit gesehen nivellieren sich diese Effekte deutlich, also warum nicht den Stimmen folgen die sagen: macht aus der Gewerbesteuer eine Bundessteuer und erhöht dafür den Kommunalanteil an der Einkommensteuer. Diesen Stimmen könnte ich mich fast anschließen, hätte die Gewerbesteuer nicht auch eine flächenplanerische Funktion. Würde man das Einnahmesteuerungselement Gewerbesteuer den Kommunen entreißen, hätten die das wichtigste Argument für die Bereitstellung neuer Gewerbegebiete verloren. Da sich die Freude von Anwohnern über neue Gewerbegebiete in unmittelbarer Nachbarschaft überall sehr in Grenzen hält, würde bei den Entscheidungsträgern dieses Argument in den Vordergrund treten und die wirtschaftliche Entwicklung des ganzen Landes wäre langfristig gefährdet.
Bleiben wie heute aber rund 85 % der Gewerbesteuer bei den Kommunen, folgen weiterhin viele Politiker dem oft gehörten Slogan: Mehr Gewerbegebiete = mehr kommunale Einnahmen und weisen Gewerbeflächen aus, die keiner benötigt. Die meisten Kommunen hätten gerne mehr Einnahmen, die Konkurrenz um Gewerbebetriebe ist heute enorm, es sind weit mehr Flächen auf dem Markt als benötigt werden. Das führt wiederum zu Dumping, um die erschlossenen Flächen irgendwie an den Mann zu bekommen, neue Flächen werden dadurch billiger als die Entwicklung von Industriebrachen, der Flächenverbrauch steigt unnötig. Nein, die Ausweitung neuer Gewerbegebiete ist sicher kein Allheilmittel und auch aus den genannten Gründen gehört die Gewerbesteuer reformiert.
Allerdings sollte man die Gewerbesteuer aus meiner Sicht nicht völlig aus den Händen der Kommunen geben. Ein Argument ist bereits genannt, zum anderen sind ich und meine Partei ja Freunde der Leistungsgesellschaft. Leistung muss sich lohnen, bekommt man etwas ohne Gegenleistung, wird man oft faul und träge. Die Bereitstellung von Gewerbeflächen und gute Wirtschaftsförderung sind Leistungen, die sich auch weiterhin lohnen müssen. Es darf nicht soweit kommen, das Verwaltungen sagen: Lasst die anderen doch arbeiten, ich bekomme mein Geld ja durch das Umlageverfahren.

Dennoch glaube ich, dass die Gewerbesteuer noch viele Jahre in ihrer jetzigen Form bestehen wird. Denn wo es in einem System Verlierer gibt, wie z.B. Rödermark, gibt es auch Gewinner (es seien hier nur die Extrembeispiele Eschborn und Neu-Isenburg genannt). Diese Gewinner haben auch Bürgermeister und Gremien, die mit der momentanen Einnahmesituation sehr zufrieden sind und daher keine Änderung wollen. Nun ist es leider auch noch so, dass man sich in reicheren Gemeinden als Verantwortlicher politisch auch mehr profilieren kann (man hat ja das Geld, um etwas gestalten zu können), so dass diese in den übergeordneten Gremien überproportional vertreten sind. So ist mir keine Partei bekannt (die irgendwo in Verantwortung steht), die zum Thema Gewerbesteuer eine geschlossene Meinung hat. Daher wird das Thema auch gar nicht erst auf einer Tagesordnung erscheinen.
Eine Änderung ließe sich auch nicht von heute auf morgen durchführen. Das heutige System besteht seit vielen Jahren, die Besitzstände der Kommunen bauen auf diesen geplanten Einnahmen auf, die gewerbesteuerreichen Kommunen horten ihre Steuereinnahmen ja nicht, sondern sie geben sie aus. Diese Ausgaben ad hoc zurückzufahren, ist so gut wie unmöglich. Personal, auch wenn es nicht zwingend benötigt wird, lässt sich im öffentlichen Dienst nicht von heute auf morgen freisetzen. Gebäude und Plätze verursachen Betriebskosten und Abschreibungen, die langfristig finanziert werden müssen. Daher wäre eine Systemänderung nur stückchenweise und in kleinen Schritten möglich.
Meiner Meinung nach sollte man eine Regelung beschließen, dass sich die Gewerbesteuerumlage bis 2030 auf 60 % erhöht. Ein Teil geht an das jeweilige Bundesland und wird durch eine entsprechende Erhöhung des kommunalen Anteils an der Einkommensteuer kompensiert. Ein Teil geht an den Kreis und wird durch eine geringere Kreisumlage kompensiert. In den ersten beiden Jahren würde ich eine Erhöhung um jeweils 5 oder 6 % (absolut) festlegen, in den Folgejahren dann jeweils Schritte von 3 %, am Ende von 2 %. Das können die gewerbesteuerstarken Kommunen sicherlich irgendwie auffangen, z.B. durch eine entsprechende Erhöhung des Hebesatzes. Zurzeit haben gerade diese Kommunen die niedrigsten Hebesätze, die teilweise weniger als die Hälfte der Sätze der Nachbarkommunen betragen. Eine Anpassung des Hebesatzes in kleinen Schritten über Jahre hinweg würde nach meiner Auffassung auch das Gewerbe nicht überfordern, eine Abwanderungswelle sehe ich nicht. Selbst wenn Eschborn z.B. seine Gewerbesteuerumlage verdreifachen würde und den Einnahmeverlust mit der Anpassung des Hebesatzes ausgleichen würde, hätte es am Ende immer noch den niedrigsten Hebesatz alles Kommunen im Rhein-Main-Gebiet.

Dr. Rüdiger Werner
Rödermark, im Februar 2014

Blogbeitrag

Gibt es einen Weg aus der Schuldenkrise?

Für Blogartikel sind die jeweils benannten Autoren allein verantwortlich.
Für Blogartikel sind die jeweils benannten Autoren allein verantwortlich.

Gibt es einen Weg aus der Schuldenkrise? – Von Dr. Rüdiger Werner

Dr. Rüdiger Werner
Dr. Rüdiger Werner

(Vorbemerkung: dieser Blog ist in der Zeit vom 25. Januar bis zum 12. Februar 2014 entstanden. Mit der Veröffentlichung haben wir aus politischen Gründen bis nach der Sitzung der Stadtverordnetenversammlung am 18.2.2014 gewartet, an der der beschriebene Haushalt für 2014 verabschiedet wurde.)

Im Februar 2013 ist Rödermark unter den kommunalen Schutzschirm geschlüpft, mit dem Land Hessen wurde ein Vertrag unterzeichnet, der Rödermark verpflichtet, bis zum Jahr 2018 einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Im Gegenzug hat das Land 12,5 Mill. € von unseren Schulden übernommen. Teil des Vertrages ist ein Eckwertebeschluss, der relativ konkret die Maßnahmen aufzeigt, wie der Abbau des jährlichen Defizits realistisch vonstatten gehen soll. Die Maßnahmen sind zwar nicht verbindlich, die jährlichen Schritte auf dem Weg zum ausgeglichenen Haushalt, d.h. der Abbaupfad, dagegen schon. Soweit die Ausgangslage.
2013 haben wir die vereinbarte Reduzierung des Defizits zum weitaus überwiegenden Teil durch Einnahmeerhöhungen geschafft: Erhöhung der Grundsteuer, der Hundesteuer, der Spielautomatensteuer, der Kindergarten- und Hortgebühren sowie Steigerungen bei der Gewerbesteuer. Die Reduzierung der Ausgaben spielte nur eine untergeordnete Rolle. 2014 sollte die Defizitverbesserung vor allem durch Ausgabenkürzungen zustande kommen. Wie aus meiner Sicht nicht anders zu erwarten, wird dies nicht gelingen. Um sage und schreibe 2,3 Millionen € sollte das Ziel laut erstem Entwurf verfehlt werden. Im offiziellen Entwurf sind daraus nun 1,7 Mill. € geworden, hervorgerufen zum Großteil durch Mehrausgaben in der Abteilung Kinder. 3 Monate später wird über einen Haushalt abgestimmt, der das Abbauziel erreicht. Glückliche Fügung oder harte Arbeit des Kämmerers?
Dieser Blog soll ein wenig Aufklärung darüber bringen, warum Rödermark ein strukturelles Defizit aufweist, warum das Defizitabbauziel eigentlich deutlich verfehlt wurde und Stellung zu der Frage nehmen: Kann Rödermark aus eigener Kraft aus der Schuldenfalle kommen?
Ich möchte mich schon jetzt dafür entschuldigen, dass es mir wieder nicht gelungen ist, dieses schwierige Thema auf 2 Seiten zu beleuchten.

Vorwegfazit
Ich möchte die Antworten kurz vorwegnehmen. Rödermark weist ein strukturelles Defizit auf, weil man in der Vergangenheit Fehler gemacht hat, sich zu teure Objekte geleistet hat, die hohe laufende Kosten verursachen, weil man in Sachen Kinderbetreuung immer vorne weg marschieren wollte und so – auch im Vergleich mit anderen Kommunen – hier sehr hohe Pro-Kopf-Kosten aufgehäuft hat und weil man lange Zeit nicht auf eine gesunde Gewerbeentwicklung geachtet hat. Das Defizitabbauziel für 2014 wurde auf dem Papier anfangs verfehlt, weil sich viele der geplanten Maßnahmen und Konsolidierungssummen als Luftnummern erwiesen, nicht einmal die Hälfte der geplanten Ausgabenkürzungen umgesetzt werden sollen oder können und weil man stattdessen neue permanente Ausgabenposten geschaffen hat, insbesondere in der Kinderbetreuung. Rödermark kann aus eigener Kraft aus der Schuldenfalle kommen, wenn die äußeren Umstände weiterhin so günstig bleiben wie für 2014 prognostiziert. Und auch nur dann, wenn man wirklich harte Einschnitte vornimmt, die Aufgaben der Kommune reduziert, das Wort Effizientsteigerung mit Leben füllt und keine neuen Ausgabenposten schafft. Vieles, was Rödermark bisher ausmacht, wird es dann nicht mehr geben, Spaß macht das niemanden. Der Weg der Koalition und des Bürgermeisters wird nicht dazu führen, dass wir irgendwann ohne neue Schulden auskommen werden. Von einem Abbau der bis 2018 angefallenen 80 Mill. € Schulden ganz zu schweigen!
Auf den folgenden Seiten lesen Sie, wie ich zu diesen Einschätzungen komme.

Wo steht Rödermark?
Ich möchte mit einer Standortbestimmung anfangen. Hier geht es um eine grobe Einschätzung, nicht um genaue Zahlen. Die Stadt Rödermark hat zwischen 50 und 60 Mill. € Schulden, das sind etwa 2.100 € pro Einwohner. Durch die Schuldenübernahme durch das Land stieg die Eigenkapitalquote wieder auf über 60 %, d.h. wenn Rödermark 40 % seiner Straßen, Gebäude, Kanäle, Schilder, Computer, Bäume etc. verkaufen würde, wäre die Stadt schuldenfrei. Damit stehen wir in Hessen im Mittelfeld, bei vielen Kommunen deckt das Eigenkapital die Verbindlichkeiten schon lange nicht mehr, in der freien Wirtschaft wären sie schlichtweg pleite. Mit unseren 2.100 € pro Einwohner stehen wir noch ganz gut da. Das sind zwar mehr als die rund 1.900 € im Bundesdurchschnitt, aber weniger als der Hessendurchschnitt von 3.400 €. Alles im grünen Bereich also?
Definitiv nein! Denn zum einen sind Schulden nie gut und zum anderen ist die Tendenz fatal. 2013 haben die Einnahmen aller deutschen Kommunen deren Ausgaben überstiegen, d.h. im Bundesschnitt hat sich die Schuldenlast der Kommunen verringert. In Hessen dagegen ist sie gestiegen. Die Schulden aller Kommunen in Deutschland haben zwischen 2008 und 2013 um 20 % zugenommen, die Schulden der hessischen Kommunen sind im gleichen Zeitraum um 70 % gestiegen! In Rödermark sind es sogar deutlich über 100 %. Damit gehört Rödermark hessenweit zu den 20 % der Kommunen mit der schlechtesten Tendenz, deutschlandweit gehören wir sogar zu den schlechtesten 5 %! Also kein grüner Bereich, sondern ganz klar im roten Bereich.

Strukturelles Defizit – warum?
Strukturelles Defizit heißt, dass für die Erfüllung aller kommunalen Pflichtausgaben mehr ausgegeben werden muss, als Einnahmen generiert werden können. Generiert werden können heißt wiederum, dass man bei den Stellschrauben für die Einnahmen schon am oberen Ende angelangt ist. Dies ist – so wird von den Verantwortlichen immer wieder betont, in Rödermark der Fall.

– Die Einnahmenseite
Wie so ein strukturelles Defizit entstehen kann – dazu muss man sich die Hauptposten bei Einnahmen und Ausgaben anschauen. Die Einnahmen einer Kommune setzen sich zusammen aus der Grundsteuer B (hier kann die Kommune über den Hebesatz Einfluss nehmen), aus den Kommunalanteilen der Einkommensteuer und der Umsatzsteuer (lässt sich von einer Kommune nur minimal über die Ausweisung von Baugebieten beeinflussen), aus der Gewerbesteuer (das ist die bedeutendste flexible Größe, die man über Gewerbeflächenpolitik, Wirtschaftsförderung und Hebesatz steuern kann) sowie zu einem kleineren Teil aus Bagatellsteuern, Gebühren und Beiträgen sowie Landeszuweisungen. Der größte steuerbare Posten hierbei sind die Gebühren für die Betreuungsleistungen im Bereich Kinder.
Wie ich im separaten Blog zur Gewerbesteuer aufzeige, führt das heutige System der Gewerbesteuer zu großen Unterschieden in der Leistungskraft einer Kommune. Die ärmeren Kommunen müssen also daran interessiert sein, ihre Gewerbesteuereinnahmen zu steigern. Nun hat eine Kommune keinen direkten Einfluss auf die wirtschaftliche Situation ihrer Gewerbebetriebe. Ob die Gewerbesteuereinnahmen steigen, hängt also zum größten Teil von den gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und vom Glück ab, die richtigen Unternehmen vor Ort zu haben. Aber durch eine gute Wirtschaftsförderung kann eine Stadt die lokalen Rahmenbedingungen so verbessern, dass sie zumindest indirekt doch Einfluss nehmen kann. Direkt beeinflussen kann eine Kommune die Art und die Anzahl von Gewerbesteuerzahlern durch eine kluge Flächenpolitik. Sie kann Interessenten Flächen zur Verfügung stellen und – wenn die Flächen begrenzt sind – diese bevorzugt an Unternehmen veräußern, die möglichst große Umsätze mit möglichst vielen Mitarbeitern auf kleiner Fläche erwirtschaften. Diese letztgenannten Punkte sind in Rödermark sicherlich verbesserungswürdig. Wir haben leider mit die niedrigsten Gewerbesteuereinnahmen pro Fläche, die vorhandenen Gewerbeflächen werden unter diesem Aspekt nicht optimal genutzt. Hier sind in der Vergangenheit sicher Fehler gemacht worden.
Beim Hebesatz der Grundsteuer B liegen wir nach der Erhöhung im oberen Mittelfeld. Die Grundsteuer B ist eine wichtige, da äußerst verlässliche und gut kalkulierbare Einnahme, aber von der Größenordnung her deutlich geringer als die anderen Einnahmequellen. Das gilt auch für die Gebühren. Auch wenn diese in Teilbereichen über Jahre zu niedrig waren und sind, erklären sie nicht das strukturelle Defizit.

– Die Ausgabenseite
Um das zu erklären, muss man sich die Ausgabenseite genauer anschauen. Bei den Ausgaben an 2. und 3. Stelle stehen die Kreisumlage und die Schulumlage. Beide lassen sich nur indirekt oder gar nicht beeinflussen. Beide steigen kontinuierlich, da der Kreis ebenfalls völlig überschuldet ist, u.a. die Sozialhilfekosten stemmen muss.
An erster Stelle der Ausgaben steht die Kinderbetreuung, deren Kosten in den letzten Jahren immer um mehr als 10 % jährlich gestiegen sind. Nun könnte man sagen, hier erfüllt Rödermark nur seine Pflichtaufgabe, diese Kosten können wir nicht steuern. Ich bin nicht ganz dieser Auffassung, wie ich später noch erläutern werde. Nach meiner Meinung liegt in Rödermark sogar eine gewisse Überfüllung des Solls vor, was zum strukturellen Defizit beiträgt.
Die Bauverwaltung in Rödermark, zu der auch der Bereich Verkehrswege, Grünflächen und Umwelt gehört, ist in meinen Augen eher unterfinanziert. Rödermark leistet sich vergleichsweise wenig öffentliche Grünflächen, die Straßensanierung hinkt den Anforderungen hinterher. Dieser Bereich trägt definitiv nicht zum strukturellen Defizit bei. Bleiben als weitere mögliche Ursachen dieses Defizits ein zu hoher Personalbestand in der Kernverwaltung bedingt durch eine in meinen Augen zu geringe Effizienz in vielen Bereichen. Hier sind unsere Hauptamtlichen naturgemäß völlig anderer Meinung. Und natürlich zu hohe Kosten in den Bereichen Brandschutz, Kultur- und Sportförderung sowie Jugendarbeit.

– Ursachenforschung
Wieso ist das so? Nun muss man wissen, dass es Rödermark finanziell nicht immer so schlecht ging. In den 90er Jahren waren die Haushalte meist ausgeglichen, man hatte mit Jado und vor allem Telenorma zwei potente Gewerbesteuerzahler, die Einnahmen galten als sicher, man hatte Gestaltungsspielräume. Wenn das Geld da ist, ist die Neigung zu Sparsamkeit und zu mehr Effizienz geringer, man gönnt sich den einen oder anderen Mitarbeiter mehr als zwingend notwendig wäre, man baut freiwillige Leistungen auf. Nun haben wir seit 20 Jahren Bürgermeister, die ihren persönlichen Schwerpunkt eher im kulturellen Bereich haben, die keine Fachmänner in Volkswirtschaft sind und waren. Da entscheidet man sich schon mal, als Ersatz für die marode Mehrzweckhalle einen Kulturtempel hinzustellen, der zwar toll ist, aber Rödermark in finanzieller Hinsicht überfordert. Man freut sich, Stützpunktfeuerwehr zu sein und blendet die damit verbundenen hohen Kosten aus. Man lässt sich von externen Gutachtern ein Konzept für ein umgebautes Badehaus aufschwätzen, was voller Schwächen und unrealistischer Zahlen ist. Alles Dinge, die die Fixausgaben auf Jahre hinaus bestimmen. Wenn dann aber die wichtigsten Gewerbesteuerzahler wegbrechen, eine wirtschaftliche Schwächeperiode hinzukommt und zudem sich mit der Kinderbetreuung der wichtigste Ausgabenblock in den letzten 10 Jahren mehr als verdoppelt, übersteigen die Ausgaben die Einnahmen schnell mal um 10 Millionen €, ist das so genannte strukturelle Defizit da.

Es ist sicherlich nicht ganz unrichtig, dass Standards nicht in Rödermark festgelegt werden, den Kommunen zusätzliche Pflichtaufgaben aufgebürdet wurden, die von den Auftraggebern nur unzureichend finanziert werden, dass sich an der heutigen Situation kurzfristig nichts ändern lässt, aber man muss auch feststellen, dass die Finanzmisere zum großen Teil hausgemacht ist, dass man Jahrzehnte über seinen Verhältnissen gelebt hat und jetzt die Ratenzahlungen nicht mehr begleichen kann.
Diese jetzt ersichtlichen Fehler der Vergangenheit lassen sich nur schwer wieder korrigieren, was Lösungsansätze für die aktuelle Misere so schwer erkennbar macht. Aber man muss die Ursachen erkennen, sich dieser Fehler bewusst werden, sonst macht sich Resignation breit, man ergibt sich seinem Schicksal und versucht gar nicht mehr gegenzusteuern. Diese Tendenz ist bei den Hauptamtlichen und der Koalition eindeutig erkennbar, was ich im nächsten Kapitel darlegen möchte.

Warum hat Rödermark das Defizitabbauziel so deutlich verfehlt?
– Unrealistischer Maßnahmenkatalog
Ein Grund liegt sicherlich in der relativ knappen Zeit, in der der Eckwertebeschluss vorliegen musste. Die Mühlen der Verwaltungsbürokratie mahlen langsam. Wenn ich den damaligen Kämmerer richtig verstanden habe, wurden den Fachbereichen Einsparvorgaben gemacht, die diese dann auf dem Papier konkretisieren mussten. Am Ende stand ein Papier, dass auf dem ersten Blick machbar erschien und so auch verabschiedet wurde. In der Fragerunde zum vorgeschlagenen Abbaupfad machte ich auf viele Schwachstellen aufmerksam, die aber alle abgebügelt wurden. „In der Kürze der Zeit lässt sich das nicht genauer kalkulieren“, „es gibt immer Spielraum im Haushalt, so dass Umschichtungsmöglichkeiten vorhanden sind, wenn eine konkrete Maßnahme nicht umgesetzt werden kann“, „entscheidend sind nicht die einzelnen Maßnahmen, sondern nur die vereinbarte Reduzierung des Defizits“. Das waren die oft wiederholten Worte. Für mich bleibt am Ende hängen, dass die Maßnahmen nur Platzhalter waren für den Wunsch – den ich niemanden abstreiten möchte – weniger Geld auszugeben. Dennoch war mein persönliches Fazit bei der Verabschiedung dieses Eckwertepapiers im Frühjahr 2013, dass bei der Berechnung der Effekte der einzelnen Maßnahmen viel Dilettantismus am Werk war, vieles viel zu optimistisch dargestellt wurde, Zahlen jeglicher Grundlage entbehrten etc.
Prägnante Beispiele gefällig? – Die Ausgaben für den Stadtbus wurden im Maßnahmenkatalog auf 0 gesetzt, 8 Monate später war klar, dass es diese Nulllösung nicht geben kann und man für den Schülertransport mit Kosten von rund 110.000 € jährlich rechnen muss. Bei den Einnahmen stehen wiederkehrende Straßenbeiträge mit 400.000 €. Schwer zu erreichen, wenn laut Schuldenbremse gerade einmal 300.000 € im Jahr für grundhafte Straßensanierung veranschlagt werden, von denen maximal 75 % auf die Bürger umgelegt werden können. 40.000 € Mehreinnahmen für Dienstleistungen der Feuerwehren waren eingeplant, weil man ja die Einsatzgebühren seit Jahren nicht mehr angepasst hätte. Nun sagt die Feuerwehr das Gegenteil, wir liegen mit den Gebührensätzen schon weit oben, Mehreinnahmen sind hier maximal 10.000 € zu erzielen. Ja hat den vorher keiner bei denen nachgefragt? Sehr überraschend kam auch der Neubau der U3-Betreuung in der Odenwaldstraße (Planung ab 2011, Baubeginn Ende 2012). Für mich war klar, dass ab dem Bezug 2014 die Zuschüsse an die Freien Träger um mehrere 100.000 € jährlich steigen müssen. Suchen Sie diesen Posten mal bei den Kalkulationen für den Rettungsschirm … Diese Liste ließe sich lange fortsetzen.
Mit allgemeiner Ausgabendisziplin und Effizienzsteigerungen hätte das Defizitziel für 2014 meiner Meinung nach dennoch erreicht werden können, ohne auf die jetzt angewendete Finanzakrobatik zurückgreifen zu müssen.

– Aufbau weiterer großer Ausgabenblöcke statt zusätzliche Einsparungen
Laut Bürgermeister Kern sind 90 % der Mehrausgaben im Bereich Kinder entstanden. Kinderbetreuung ist politisch betrachtet eine heilige Kuh. Hier wagt sich keiner, Kürzungen vorzunehmen. Das Thema ist so umfangreich, dass ich hierzu demnächst mal einen eigenen Blog schreiben musste. Das geht so weit, dass man gleich nach einem neuen Kindergarten schreit, wenn auch nur ein Kind auf der Warteliste steht. Trotz aller Bundesmittel, Zuschüsse von Bund, Land und Kreis muss man wissen: Die Kommunen zahlen rund 2/3 der Baukosten und über 70 % der laufenden Kosten für ihre Kinderbetreuungseinrichtungen. Mehr Kinderbetreuung fordern kommt gut an, aber man muss sie auch bezahlen können. Rödermark kann es scheinbar. So wurden 2013 insgesamt 40 Halbtags- oder 2/3-Plätze in Ganztagsplätze umgewandelt. Der Wunsch der Eltern nach Ganztagsplätzen nimmt zwar stetig zu, dennoch ist diese Umwandlung eine freiwillige Maßnahme der Stadt, die im Eckwertepapier nicht vorgesehen war und wohl deutlich über 50.000 € jährlich kostet.
Mit dem neuen Kinderförderungsgesetz (kurz KiföG) hat das Land Hessen die Zuschüsse zum Betrieb von Kinderbetreuungseinrichtungen um rund 1/3 erhöht. Die höchsten Mehreinnahmen erzielen allerdings die Kommunen, die die bisherige Mindestverordnung bzgl. Gruppengrößen und Betreuungspersonal noch nicht umgesetzt hatten. Rödermark war hier schon immer Vorreiter, hat sich an den Empfehlungen der Experten orientiert, hat dafür bisher schon Zuschüsse enthalten und muss nun feststellen, dass insbesondere 2014 das KiföG nicht wie erhofft Mehreinnahmen mit sich bringt, sondern zu Mehrausgaben führt. Aber man ist ja nicht lernfähig. Nun sind wieder Gruppengrößen bei der U3-Betreuung von 12 möglich (bei entsprechender Personalaufstockung), also plant man mal ein, das auch sofort so zu übernehmen. Und da die Förderschule in Urberach vom Kreis geschlossen wird, hat man schon angefragt, ob man diese eventuell zu einem weiteren Kindergarten umbauen kann. Ach, und natürlich diskutiert man zurzeit darüber, die Gehälter aller Erzieherinnen um 2 Gehaltsstufen zu erhöhen, freiwillig wohlgemerkt, um auf dem härter werdenden Markt auch in Zukunft mit ausreichend Fachpersonal versorgt zu sein. Jährliche Mehrkosten aller Maßnahmen zusammen – geschätzt 600-800.000 € jährlich!! Und natürlich auch davon keine Zeile im Eckpunktepapier zum Rettungsschirm.
Den Satz „das wäre schön und wichtig, aber leider können wir das nicht finanzieren“ habe ich von den Verantwortlichen noch nie gehört. All das zeigt: man hat den Ernst der Lage noch immer nicht im vollem Umfang erkannt!

– Mangelnde Sparbereitschaft bei den politisch Verantwortlichen
Ein Tenor bei den Konsolidierungsgesprächen war: wir verzichten auf betriebsbedingte Kündigungen, haben aber erkannt, dass der Weg aus der Schuldenfalle nur über die Reduzierung der Personalkosten geht. Daher wurde vereinbart, frei werdende Stellen nicht wieder zu besetzen (Ausnahme Erziehungsbereich). Wo das nicht geht (Leitungsfunktionen), muss zum Ausgleich eine andere Stelle mit niedrigerer Besoldung abgebaut werden. Heute heißt es dazu vom Kämmerer nur noch: Stellen, die durch Verrentung frei werden. In der Praxis wird wieder einmal anders gehandelt. Man bekommt den Eindruck, jeder Mitarbeiter ist unverzichtbar, über Wiederbesetzungungssperren wird sich seit Jahren einfach hinweggesetzt, selbst befristete Verträge (wie bei der Integrationsbeauftragten) werden langfristig verlängert und sollen nach Möglichkeit sogar aufgestockt werden.
Ich habe großes Verständnis dafür, dass keiner gerne sparen will, besonders beim Personal. Die Fachbereichsleiter müssen dafür sorgen, dass ihr Fachbereich seine Aufgaben erledigt und versuchen natürlich, sich bei der Ressourcenverteilung so teuer wie möglich zu verkaufen. Wenn sie aber merken, dass beim Kämmerer und Bürgermeister Jammern hilft, dass von Seiten der Hauptamtlichen der Spardruck auf sie gemildert wird, auf Hilfe von außen gewartet wird, anstatt standhaft zu sein und sich selbst aus dem Sumpf zu ziehen, dann werden die ambitionierten Einsparvorgaben nie erreicht werden, dann ist der Eckwertebeschluss das Papier nicht wert, auf dem er steht.

– Fazit
Ich habe die Probleme des Haushaltes 2014 hier nur sehr vereinfacht dargestellt. Die Finanzströme sind in Wirklichkeit deutlich komplexer, die Ursachen vielfältiger. Aber mir geht es hier auch gar nicht um die kleinen Details, die den ohnehin schon enormen Umfang dieses Blogs definitiv sprengen würden, mir geht es um die Hauptprinzipien des Versagens. Und die lassen sich wie folgt zusammenfassen: Massive Fehlplanungen bei der Erstellung des Abbaupfades, unnötiger weiterer Aufbau von Kosten statt zusätzliche Einsparungen, zu wenig ausgeprägter Sparwillen an der Verwaltungsspitze, die mehr auf den weißen Ritter hoffen, als selbst zu handeln.

Kann Rödermark aus eigener Kraft aus der Schuldenfalle kommen?
Ich möchte mit meiner persönlichen Einschätzung bzgl. dieser Frage beginnen. Die Antwort lautet: ja! Aber der Preis dafür wäre so hoch, dass kein politisch Verantwortlicher ihn bezahlen möchte. Wahrscheinlich selbst ich nicht. Daher würde meine Antwort auf die Frage „wird Rödermark die Ziele des Abbaupfades erreichen und ab 2018 ausgeglichene Haushalte vorlegen?“ lauten: Nein!

– Der Weg des Bürgermeisters
Für Bürgermeister Kern sind grundsätzlich erst einmal die anderen schuld, die Rahmenbedingungen sind nun mal so, wir erfüllen nur unsere Pflichten und die kosten Geld. Bei der Konsolidierung darauf zu bauen, dass sich die Rahmenbedingungen ändern, ist ein einfacher Weg, der aber in eine Sackgasse führt.
Fast die Hälfte seiner Rede zur Haushaltseinbringung befasste sich mit einem Urteil des Hessischen Staatsgerichtshofs vom 21. Mai 2013, das eine Neuordnung des Hessischen Finanzausgleichs zugunsten der Kommunen fordert. Was erwartet unser Bürgermeister? Dass ab 2016 das Land unser Defizit ausgleicht – egal wie hoch es ist? Wenn man Rödermark als Maßstab nimmt und von einem jährlichem Defizit von 250 €/Person ausgeht (was weniger ist als das von 2014), müsste Hessen mehr als 1,5 Mrd. € im Jahr aufbringen. Nun weiß aber jeder, dass auch das Bundesland hochverschuldet ist, jedes Jahr über 1 Mrd. € neue Schulden macht und ab 2020 durch Verfassungsbeschluss ohne Neuverschuldung auskommen muss. Es ist utopisch anzunehmen, ab 2016 sei die Welt wieder in Ordnung. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass das Land mehr als maximal 300-500 Mill. € mehr in den Finanzausgleich pumpen wird. Eher wird es weniger. Selbst wenn Rödermark überproportional an dieser Summe partizipieren sollte, jede Erwartung über 2 Mill. € zusätzlich gehört nach meiner Meinung ins Reich der Märchen. Es wird kein Weißer Ritter kommen. Im jetzt zur Verabschiedung anstehenden Haushalt sind für die Jahre 2015-2017 mittlerweile jeweils über 1 Mill. € höhere Zuweisungen des Landes eingeplant, weil man sonst die Defizitziele nicht mehr erreichen kann. Sehr gewagt. Da bisher nicht mal 1 Euro aus dieser Quelle gesichert ist, muss sich Rödermark meiner Meinung nach irgendwie selbst aus dem Sumpf ziehen. Mögliche erhöhte Landeszuweisungen ab 2016 als Argument zu nutzen, den Abbaupfad zu verlassen – frei nach dem Motto: weiter so wie bisher – ist verantwortungslos und finanzpolitisches Harakiri.
Nach den Gesprächen mit Land ist den Verantwortlichen klar, dass Rödermark den vereinbarten Abbaupfad nicht verlassen darf. Der Kämmerer musste nachbessern, das geplante Defizit für 2014 musste noch einmal um 1,7 Mill. €. niedriger werden. Das hat der Magistrat geschafft. Schulden zwischen Oktober und Februar um 2,3 Millionen Euro gesenkt! Hört sich gut an. Tolle Arbeit der Verantwortlichen? Keineswegs! Denn schauen wir doch einmal, wie man zur Punktlandung gekommen ist: Da wird der Ansatz der Zinszahlungen für die Kassenkredite gesenkt, da wird der Ansatz der Gewerbesteuereinnahmen um einige 100.000 € erhöht, da werden die Zusatzanmeldungen im Fachbereich 6 (Straßenerhalt, Grün- und Landschaftspflege) in zum Teil wieder gestrichen (halte ich für nicht gut, komme ich gleich noch zu) und eine Stelle, die kurzfristig vakant wurde, wird nicht mehr besetzt. Da wird der Ansatz für die Personalkostensteigerung durch den kommenden Tarifvertrag auf 2 % reduziert, was über 200.000 € bringt. Da werden Absichtserklärungen der neuen Landesregierung bzgl. Übernahme von Kosten der Schulkindbetreuung mit einem Plus von 273.000 € bei den Einnahmen hineingerechnet, da wird nochmals von einem höheren Einkommensteueranteil in sechsstelliger Höhe ausgegangen, höhere Schlüsselzuweisungen und höherer Familienleistungsausgleich sollen weitere hohe Mehreinnahmen bescheren. Eine weitere Stelle fällt weg durch einen vorgezogenen Ruhestand. Und als einem die Ideen ausgingen, hat man sich mal schnell mit einer Sonderauszahlung von 450.000 € aus den Rücklagen der Berufsakademie beholfen. 2,3 Millionen € Ergebnisverbesserung sind in Wirklichkeit die Reduzierung der Finanzpuffer auf ein Minimum, nach oben korrigierte Annahmen bei den Einnahmen, insbesondere bei den Landeszuschüssen (die keinesfalls alle gesichert sind) und Entnahmen aus den Rücklagen. Wirkliche Einsparungen bzw. Ausgabekürzungen? Rund 150.000 €: ein bisschen Infrastrukturpflege und 2 Stellen!

Im ganzen Haushaltsansatz ist aus meiner Sicht keine Position gestrichen worden, die wirklich ein wenig weh tut. Besonders bei den Themen, die beide Hauptamtliche als ihr Steckenpferd ansehen (Kunst, Kultur, Kinder, Soziales) wird nicht gekürzt, sondern tendenziell eher ausgebaut. Es werden zwar nicht mehr alle Wünsche erfüllt, vieles ist aufgrund der Sparzwänge nicht mehr möglich, dennoch ist mein persönliches Fazit: Konsequente Kostenkontrolle sieht anders aus, der Spardruck hat die Verwaltung noch nicht überall erreicht, vor allem wird es von der Verwaltungsspitze nicht so vorgelebt, wie es sein könnte. Ein komplettes Umdenken konnte ich nicht feststellen. Das Potenzial, durch Änderungen und Verbesserungen in der Organisation die Effizienz und Produktivität der Verwaltung zu steigern, wird überhaupt nicht angetastet. Rund 90 % der Ergebnisverbesserungen der letzten beiden Jahre (2013 + 2014) wurden durch höhere Aufwendungen der Bürger (Grundsteuer, Steuern, Gebühren), durch günstige äußere Umstände (niedrige Zinsen, steigende Gewerbesteuereinnahmen) und durch höhere externe Zuschüsse oder Kostenübernahmen erzielt. Die tatsächlichen Ausgabenkürzungen/Einsparungen in der Verwaltungstätigkeit liegen nach meinen groben Berechnungen nur bei rund 10 %. Da geht noch viel mehr! Doch ehrlich gesagt erwarte ich bei der momentanen Hauptamtlichen Spitze hier keine Besserungen.

Mein Weg oder: wie man auch vorgehen könnte
Das Ziel ist klar: nur noch so viel Geld ausgeben, wie man auch einnimmt!
Der Weg dorthin geht nur mit viel Konsequenz. Die Leitsätze möchte ich im Folgenden darlegen. Vieles davon habe ich auch schon in meinem Blogs „Rödermarks Haushalt – keine Aussicht auf Rettung?“ vom 16.10.2011 und “Die Haushaltsanträge der FDP“ vom 16.4.2012 detailliert dargelegt, die ich dem interessierten Leser empfehlen kann.

Erste Prämisse: keine neuen fortlaufenden Kosten aufbauen!
Dies verbietet zum einen das Einstellen von neuem Personal. Eine Planstelle in der Verwaltung entspricht grob 50.000 € jährliche Kosten. Damit verbunden ist ganz klar auch der Stopp des Ausbaus der Kinderbetreuung. Auch wenn es weh tut und unseren bisherigen Standortvorteil im Laufe der Zeit auffressen könnte: in der momentanen Lage kann es sich Rödermark nicht leisten, die Zahl der Ganztagsplätze weiter auszubauen (nach dem großen Zubau 2013 stehen auch 2014 im Haushaltsentwurf wieder 70.000 € Mehrkosten für die Aufstockung der Ganztagsplätze in der Kita Taubhaus nach den dort notwendigen Sanierungsmaßnahmen). Der Bedarf mag da sein, mit steigendem Angebot erhöht man aber auch den Bedarf. Ein No-Go ist auch die Idee, neben der Odenwaldstraße, die wohl bezugsfertig ist, weitere neue U3-Betreuungseinrichtungen zu bauen. Die U3-Betreuung ist die teuerste Art der Betreuung, jeder Platz kostet die Stadt jährlich rund 15.000 € an Subventionen. Ich halte einen weiteren Zubau zurzeit für unnötig und würde stattdessen die monatlichen Eltern-Gebühren von 250 € auf 400 € anheben (es gibt mehrere Bespielgemeinden mit Gebühren in dieser Höhe). Details dazu finden Sie im Blog zur Familienpolitik. Stattdessen wurden vorsorglich Gelder für den Bau einer weiteren Betreuungseinrichtung eingestellt, bevorzugt in den Räumlichkeiten der Helene-Lange-Schule in Urberach (Liebigstraße), die vom Kreis im Sommer geschlossen wird.
Das neue Kinderförderungsgesetz bietet die Möglichkeit, die Gruppengrößen in bestehenden Einrichtungen und so die Zahl der Betreuungsplätze zu erhöhen. Da hiermit die Einstellung von neuem Personal verbunden ist, muss auch dies zurzeit abgelehnt werden. Und schon gar nicht würde ich – völlig freiwillig – sämtliche Erzieherinnen 2 Gehaltsstufen höher eingruppieren, wie von Stadtrat Rotter vorgeschlagen und jetzt von der Koalition für 2015 beantragt. Dies wäre eine Premiere: eine Stadt erhöht ohne den Druck von Gewerkschaften, ohne Streiks oder innere Proteste das Gehalt von über 100 Mitarbeitern, nur um ihnen einen Anreiz zu geben, ihre Tätigkeit weiterhin in Rödermark auszuüben. Das ist in der jetzigen Lage so absurd, dass ich auch hierzu einen Extrablog geschrieben habe.
Auch der Stadtbus nach SPD-Vorstellungen wäre so ein Posten, hohe fortlaufende Kosten auszubauen. Geht nicht!

Zweite Prämisse: keine Kürzungen zum langfristigen Schaden der Stadt! Sich wirtschaftliche rechnende Investitionen müssen durchgeführt werden!
Ich gebe zu, ich gehöre zu den Leuten, die eher bereit sind, in Infrastruktur zu investieren als in Köpfe. Aber darum bin ich ja auch in der FDP und nicht z.B. bei den Linken. Investitionen in die Infrastruktur kommen im Prinzip allen Bürgern zu Gute, während Investitionen in Köpfe meist nur einem kleinen Personenkreis direkt betreffen. Investitionen in die Infrastruktur fördern die Möglichkeit der Bürger, sich selbst etwas aufzubauen, während Investitionen in Köpfe in der Regel die Eigenverantwortung der Bürger reduzieren.
Unter diese Prämisse fällt folgendes: wenn ich die Wahl habe, heute für eine präventive Sanierung 50.000 € auszugeben oder in 10 Jahren unweigerlich 500.000 € für eine grundhafte Sanierung, dann entscheide ich mich für die präventive Sanierung. Dies betrifft vor allem die Instandhaltung der Gemeindestraßen, der städtischen Gebäude sowie die Kanal- und Grabenpflege. Wenn ich heute 20.000 € investieren muss, um in den nächsten 10 Jahren 30.000 € weniger Ausgaben zu haben, dann investiere ich. Dies gilt besonders für energetische Sanierungen, Änderungen im Fuhrpark, beim Thema Kreisel statt Ampeln. Manchmal ist die Wirtschaftlichkeit einer Maßnahme auch nicht so eindeutig zu quantifizieren. Dennoch sagt mein gesunder Menschenverstand, dass sich z.B. Investitionen in den Breitbandausbau, in die Internetpräsenz der Stadt, in das E-Government (die Möglichkeit, viele Anträge, Formulare, Behördengänge etc. über das Internet auszufüllen bzw. abzuwickeln), in Programme zur Effizienzsteigerung in der Verwaltung (von neuer Software bis zur externen Beratung) mittel- bis langfristig auch wirtschaftlich rechnen. Deshalb würde ich hier investieren. Da oftmals erst Investitionen getätigt werden müssen, um ein Einsparpotenzial zu aktivieren, bin ich auch kein Freund der Schuldenbremse nach Rödermärker Art. Das Verbot einer Nettoneuverschuldung deckelt nur die Investitionen, hat aber keine Auswirkungen auf das Defizit im Verwaltungshaushalt. 2014 wird diese selbstauferlegte Kasteiung erstmals aufgeweicht, worüber ich nicht unglücklich bin.
Die Konsequenz aus dieser Prämisse kann durchaus sein, mehr Geld auszugeben als bisher eingestellt. Straßen, Wege, Kanäle und Abwassergräben sind ein wichtiger Teil des Eigenkapitals der Stadt. Hier muss zumindest so viel Geld zur Verfügung stehen, dass durch unterlassene Instandhaltung das Eigenkapital der Stadt nicht massiv verringert wird. Zumindest in der Straßenunterhaltung geschieht dies bereits seit Jahren und soll jetzt noch einmal beschleunigt werden. Das findet nicht meine Unterstützung.

Dritte Prämisse: Notfalls Angebote zurückschrauben!
Viele Ursachen für das heutige Ausmaß der Rödermärker Schuldenkrise liegen in der Vergangenheit und sind heute nur noch bedingt zu beheben. Das Problem ist, dass die Regierenden – egal welcher politischer Couleur – den Bürgern etwas bieten wollen. Ein kulturelles Angebot wie in einer Großstadt wäre doch schick. Natürlich braucht jede Kommune ihre eigene Badeanstalt. Büchereien, Sportanlagen, Bürgerhäuser – das gehört doch alles zur Grundausstattung und ist heute unverzichtbar. Meine Meinung dazu: diese Art von Infrastruktur muss man sich auch leisten können. Was wäre so schlimm daran, wenn sich wesentliche Kultur- und Sportangebote auf die Städte konzentrieren, die sie sich aufgrund ihrer Gewerbesteuereinnahmen auch leisten können? Was ist an einer sogenannten „reinen Schlafstadt“ denn so verkehrt? Ruhige Wohngegend mit viel Natur drumherum, gute Schulen und Betreuungseinrichtungen, gut gepflegte Straßen und Wege – besitzt das nicht auch eine Attraktivität? Wer näher an der Kultur sein will, muss dann halt nach Frankfurt, Neu-Isenburg oder Darmstadt ziehen – mit all den Nachteilen wie mehr Verkehr, höhere Mieten, weniger Ruhe und Natur. Wenn man ins Museum, in den Zoo oder auf ein Konzert gehen will, fährt man doch schon heute in die Oberzentren. Wäre es wirklich so schlimm, auch für das Theater oder zum Schwimmen dorthin zu fahren? Die meisten Menschen sind doch mobil!
Aber nein, Rödermark wollte auch Mittelzentrum sein. Hätte man statt der Kulturhalle damals eine kleinere Multifunktionshalle gebaut – wir hätten jedes Jahr eine Millionen € weniger Ausgaben und 20 Mill. € weniger Defizit. Ist jetzt leider nicht mehr zu beheben, die Kulturhalle steht und es wäre unsinnig, das Gebäude nicht zu nutzen.
Anders sieht die Sache beim Badehaus aus. Hier liegt der Fehler nicht in der prinzipiellen Entscheidung, das marode Hallenbad durch einen moderneren Bau zu ersetzen, der Fehler lag darin, sich auf fragwürdige Gutachten und Wirtschaftspläne zu verlassen, diese nicht mit gesundem Menschenverstand zu hinterfragen und diverse Nebenverträge (Baufirmen, Blockheizkraftwerk) zu unterzeichnen, die sich zum Nachteil der Stadt herausgestellt haben. Hätten sich die Prognosen von 2004 bewahrheitet – keiner würde heute das Badehaus in Frage stellen. Mit 200.000, 300.000 oder gar 400.000 € jährlichem Defizit könnte die Stadt gut leben, da könnte man sagen: das ist es uns wert. Aber jedes Jahr über eine Millionen € Defizit ist einfach zu viel. Und es wird nicht besser. Nach einer leichten Verbesserung auf rund 950.000 € 2012 waren es 2013 wieder 1,05 Millionen € Minus. Für 2014 sind 1.06 Millionen € Defizit prognostiziert. Auch wenn ich es wirklich nicht möchte, die Schwimmvereine eine wichtige kulturelle wie sportliche Rolle in der Stadt spielen und der Schulschwimmsport Probleme hätte – diese Zahlen lassen nur die Schlussfolgerung zu, das Badehaus komplett zu schließen. Wenn eine 2-Millionen-€-Investition dazu führen würde, das jährliche Defizit belastbar auf unter 400.000 € zu drücken und dafür das Badehaus für Schul- und Breitensport zu erhalten, würde ich dem auch noch zustimmen. Aber danach sieht es nicht aus.
Büchereien sind immer defizitär. Hier ist die Höhe des Betriebsdefizits aber noch im Rahmen (die Gebäudekosten würden auch bei einer Schließung anfallen, denn verkaufen lassen sich die Räumlichkeiten meines Erachtens nach nicht). Ähnliches gilt für Kelterscheune und Bürgerhaus Waldacker, wobei man hier durchaus daran arbeiten sollte, die Nutzungsintensität zu optimieren und damit das Defizit zu reduzieren.
Das städtische Angebot im Jugend- und Sozialbereich ist in meinen Augen in Rödermark überdurchschnittlich. Auch in der allgemeinen Verwaltung und in der Betreuung der städtischen Gremien gibt es einiges, was sich zurückschrauben ließe, um die laufenden Kosten zu senken.

4. Prämisse: die Standards müssen runter!
Dies ist ein Punkt, den die Stadt nicht direkt beeinflussen kann. Man kann die Erkenntnisse nur an die Parteienvertreter in Land und Bund weitergeben und darauf Einfluss nehmen, dass sich hier etwas verändert.
Um was geht es überhaupt? Politiker haben das Bedürfnis ihr Dasein damit zu rechtfertigen, dass sie etwas ändern, etwas „verbessern“. Es herrscht außerdem ein Drang zur Normung, zur Standardisierung. Bei jeder Änderung wird die Norm verschärft, die Grenzwerte herabgesetzt, die Standards erhöht. Oder können Sie sich an einen Fall erinnern, in der dies anders herum war?
Eine Erhöhung der verpflichtenden Standards muss sich eine Gesellschaft erst einmal leisten können und ich habe seit Jahren das Gefühl, dass Deutschland und Europa hier die Schraube überdrehen.
Klar ist eine Schulklasse mit 20 Kindern angenehmer als mit 30, aber sind wir nicht alle in größeren Klassen gut groß geworden? Klar ist eine Kita-Gruppe mit 18 Kindern und 2 Erzieherinnen leichter zu betreuen, aber mir hat meine Gruppe mit 25 Kindern und einer Betreuerin (+ meist eine Praktikantin für 3 Gruppen) auch nicht geschadet. Nein, ich möchte das Rad nicht in die 70er-Jahre zurückdrehen, aber es wäre auch keine Katastrophe für die Gesellschaft, wenn die Standards von 1998 heute noch gelten würden. Ich schätze, Ausgaben in der Größenordnung von bis zu 500.000 € würden dann erst gar nicht anfallen.
Fast ebenso teuer sind die Folgen der überzogenen Brandschutzstandards, die besonders bei öffentlichen Bauten auftreten. Nach meiner Meinung gehören Brände zum allgemeinen Lebensrisiko. Wenn man mit Standards, die die Gesellschaft z.B. 100 Mill. € jährlich Mehrkosten abverlangen, Schadensereignisse in der gleichen Größenordnung verhindern kann, ist das vernünftig und nachvollziehbar. Wenn man aber 2 Mrd. € zusätzliche Kosten verursacht, um 50 Mill. € an Brandschäden zu verhindern, ist die Verhältnismäßigkeit verloren gegangen und die Standards überhöht. Feuertreppe am Hort Ober-Roden, teuerste Materialien beim Neubau von Kindertageseinrichtungen, Millionen Mehrausgaben für den Brandschutz in der Halle Urberach – Brandschutzstandards sind für die öffentliche Hand ein großer Kostenträger. Nicht das ich falsch verstanden werde – ich bin nicht für die Abschaffung von Brandschutzstandards. Ich bin nur der Auffassung, dass das letzte Prozent an mehr Sicherheit bestimmt 30 % der Mehrkosten verursacht und damit unverhältnismäßig ist.
Ein dritter Punkt mit überzogenen Standards betrifft den Lärmschutz. Auch das behindert die Entwicklung der Kommunen und kann im Einzelfall Millionen kosten. Ganz früher bauten die Menschen ihre Häuser direkt an die Straße, später dann trennte ein Vorgarten Haus und Straße und heute ist es eine 5 m hohe, hässliche, flächenfressende Lärmschutzwand! Was sollen diese überzogenen Bauauflagen? Wer braucht an der Frankfurter Straße (Karnweg) oder an der Mainzer Straße (Altes Gaswerk) wirklich eine Lärmschutzwand? Wer die neue Umgehungsstraße Offenthal befahren hat, fragt sich unwillkürlich: müssen für eine 12 m breite Straße wirklich 60 m Landschaft verbraucht und zerstört werden, nur damit man die Straße vom Ort aus nicht mehr sieht? Wäre nicht eine dichte Hecke Lärmschutz genug?

5. Prämisse: Innovationen nutzen, Effizienz steigern
Die heutige multimediale Welt bietet vielfältige Möglichkeiten, die die Arbeit erleichtern können und Prozesse vereinfachen können. Leider hinken viele Behörden diesen Möglichkeiten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinterher. Rödermark gehört hier dazu. Anstatt einen Nummernziehautomat zu installieren, sollte man das Internetangebot so ausbauen, dass Antragsteller schon vieles von zuhause aus erledigen können. Zusammen mit der Möglichkeit von elektronischen Terminvergaben kann so nicht nur der Kundenservice erhöht werden, sondern es sind Effizienzsteigerungen ohne Mehrbelastungen für die städtischen Mitarbeiter möglich. Mittelfristig ist der städtische Haushalt deutlich entlastbar. Das Potenzial solcher Effizienzsteigerungen – ob in der allgemeinen Verwaltung, in der Betreuung städtischer Gremien, im Bürgerbüro – liegt meines Erachtens im hohen sechsstelligen Bereich jährlich. Konkrete Vorschläge dazu hat die FDP in den vergangenen Jahren schon viele gemacht, beschossen oder gar umgesetzt wurden noch keine.

6. Prämisse: Eigenverantwortung stärken, Ehrenamt fördern
Aufgrund der prekären Finanzausstattung müssen immer mehr eigentlich kommunale Aufgaben ehrenamtlich von den Bürgern selbst übernommen werden. Rödermark ist hier auf einem vergleichsweise guten Weg, es haben sich mehrere Quartiersgruppen gebildet, die Ideen haben, bereit sind, sich aktiv einzubringen und Projekte umzusetzen. Die Leitbildpaten sind eine andere Gruppe ehrenamtlich engagierter Bürger.
Die FDP setzt seit jeher auf mehr Eigenverantwortung der Bürger und weniger Bevormundung durch den Staat. Daher unterstützen wir alle Schritte, die die Eigenverantwortung der Bürger stärken. Ob Vereinswesen, Gemarkungsputz, Quartiersgruppen, Ehrenamtsbüro – an dieser Stütze der Gesellschaft darf nicht gespart werden. Wenn es sein muss, muss hier sogar mehr Geld in die Hand genommen werden, denn am Ende rechnet es sich immer für die Kommune. Ehrenamtliche Arbeit hilft der Kommune Kosten zu sparen, fördert das Gemeinwesen und stärkt die Eigenverantwortung der Bürger.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf 3 Punkte eingehen.
– Kürzung der Vereinsförderung
Im Konsolidierungspaket ist die sukzessive Kürzung der direkten Vereinsförderung bis fast zur kompletten Streichung vorgesehen. Vereinsförderung ist eine freiwillige Leistung und daher rechtlich leicht zu streichen. Aber macht dies auch Sinn? Hier bin ich ausnahmsweise einmal auf der Seite des Magistrates. Ja, man kann die Förderrichtlinien überarbeiten, man kann die Kinder- und Jugendarbeiten in den Vereinen noch stärker hervorheben und vielen Vereinen wäre es auch zuzumuten, ihre Beiträge um 4 € im Jahr anzuheben, um den Verlust des Förderbetrages auszugleichen. D.h. man kann die Förderung optimieren und somit 50.000, 80.000 oder vielleicht sogar 100.000 € weniger im Jahr ausgeben. Aber die vorgesehene Kürzung bis 2018 würde zu sehr an die Substanz gehen. Vor allem die indirekte Förderung – z.B. bezahlbare Mieten für Räume und Sporthallen – muss in vollem Umfang erhalten bleiben, sonst würden die indirekten Folgekosten dieser Kürzungen für die Gesellschaft die Einsparungen bei weitem übertreffen.
– Unterstützung ehrenamtlich Tätiger
Die Stadt hat kein Geld für Infrastrukturprojekte, für Grünpflege, für Stadtverschönerung etc. Wenn sich dann Einzelpersonen oder Bürgergruppen bereit erklären, hier mit der eigenen Tatkraft einzuspringen oder sogar mit dem eigenen Portmonee, dann sollte die Stadt hier auch wirklich unterstützen und nicht nur von Unterstützung reden.
Es kann nicht sein, dass es engagierten Bürgern von der Stadt untersagt wird, auf eigene Kosten z.B. verwitterte Fahrbahnmarkierungen mit den verlangten Normfarben nachzuziehen, Straßenschilder zu reinigen oder Schlaglöcher zu stopfen. Man sieht einen Missstand, hat – im Gegensatz zur Stadt – die Zeit und die Mittel, diesen zu beheben und darf nicht, weil es eine hoheitliche Aufgabe der Stadt ist. Es erinnert mich an Schilda, diesen Bürgern auch noch mit einer Anzeige zu drohen, weil sie einen Missstand beheben wollen, wozu die Stadt anscheinend nicht in der Lage ist, obwohl es ihre Aufgabe wäre.
Es kann nicht sein, dass bei Gesprächen mit Bürgergruppen, ob aus Vereinen, Quartiersgruppen oder bei Bürgersprechstunden, von Seiten der Verwaltung immer nur Versprechungen gemacht werden und diese dann nicht gehalten werden. Für die Verwaltung mag die Klärung eines Sachverhalts in 2 Monaten schnell sein, für engagierte Bürger, die etwas umsetzen wollen, ist das viel zu lange, ist demotivierend, sorgt bei vielen mit der Zeit für die Einstellung des ehrenamtlichen Engagements. Handeln statt reden! Wenn ich als Vorsitzender des NABU Rödermark, der durch die Übernahme von Projekten in der Landschaftspflege der Stadt viele Kosten einspart, aufschreiben würde, was uns schon alles versprochen, aber bisher nicht umgesetzt wurde, würde eine sehr lange Liste zustande kommen.
In meinen Augen muss die Stadt alles unternehmen, ihre engagierten ehrenamtlichen Bürger (von denen es immer noch zu wenige gibt) bei Laune zu halten und das Potenzial, was darin steckt, gerade auch im Zuge der Haushaltskonsolidierung, nach Möglichkeit voll auszuschöpfen. Daher sollte die Verwaltung nur das versprechen, was sie auch halten kann – und das dann auch kurzfristig umsetzen. Jeder Einzelfall eines enttäuschten ehrenamtlich engagierten ist einer zu viel. Hier gibt es Verbesserungspotenzial.
– Bürger motivieren sich ehrenamtlich zu engagieren
Zu sagen, wir unterstützen unsere Bürger bei ihrem ehrenamtlichen Engagement, ist das eine. Diese Bürger erst einmal zu finden, ist das andere. Es wird für viele Vereine immer schwieriger Personen zu finden, die ehrenamtliche Aufgaben übernehmen, die sich bei Vorstandswahlen zur Wahl stellen. Oftmals ist es so, dass jeder, der bei einer Mitgliederversammlung anwesend ist, auch ein Amt übernimmt oder fortführt. Viele Vereine und Organisationen haben mittlerweile massive Probleme, Vorstandsposten überhaupt zu besetzen. Darunter finden sich die meisten Fördervereine, aber auch Vereine wie die Kinder- und Jugendfarm, der NABU sowie kleinere Parteien wie die FDP. Die wenigen verbliebenen ehrenamtlich Aktiven in diesen Vereinen können die Vereinsaufgaben kaum noch bewältigen, resignieren nach und nach und gehen mit ihrem Potenzial der Gesellschaft verloren. Wenn diese Vereine wegfallen, muss in vielen Fällen wieder der Staat in Form der Kommune die Aufgaben übernehmen, was immer mit viel höheren Kosten verbunden ist. Mehrere Hundert Eltern nutzen z.B. das Betreuungs­angebot des Fördervereins an der Trinkbornschule, sind aber nicht bereit, sich für den Verein zu engagieren. Wenn sich in 15 Monaten keine neuen Aktiven finden, wird sich der Verein Kinder- und Jugendfarm, der in den vergangenen Jahren so viel aufgebaut und Engagement gezeigt hat, wohl auflösen. Und ob wir als FDP auch in 5 Jahren noch in Rödermark vor Ort sind, wird davon abhängen, ob sich in den kommenden Jahren Menschen finden, die bereit sind, sich hier aktiv einzubringen und Verantwortung zu übernehmen.
Ich habe keine Patentlösung für dieses Problems. Aber es ist ein elementares Problem unserer sich wandelnder Gesellschaft. Das vielgerühmte deutsche Vereinswesen ist keinesfalls für alle Zeiten festgemeißelt, nein, wir alle müssen aktiv daran arbeiten, dass es erhalten bleibt und seine heutige Bedeutung erhalten kann.

Fazit
Man erkennt sicherlich bei der Lektüre dieses Blogs, dass die Materie komplex ist, dass es kein einfaches richtiges und falsches Handeln gibt. Wenn man mit den vorhandenen Einnahmen auskommen will, zumindest keine neuen Schulden mehr machen will (von der Rückzahlung der bisherigen will ich gar nicht erst reden), kommt man um wirklich harte Einschnitte nicht herum. Damit kann man politisch nichts gewinnen. Es ist daher verständlich, dass sich die handelnden Politiker so lange es irgendwie geht, um solche Einschnitte drücken – nach dem Motto „es muss doch irgendwie anders gehen!“.
Bürgermeister Roland Kern und seine Verwaltung haben 2014 wirklich Glück. Glück, dass die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen günstig sind, die Steuerschätzungen auch für Rödermark angehoben wurden, dass eine neue Landesregierung Versprechungen gemacht hat, deren Einberechnung in den Haushalt 2014 von der Kommunalaufsicht nicht beanstandet wurde. Glück, dass der erste Entwurf wie in Rödermark Usus konservativ gerechnet wurde, d.h. einige Puffer enthielt, die man reduzieren konnte. Somit konnte der erste Entwurf innerhalb von nur 3 Monaten um 2,3 Mill. € verbessert werden, der mit dem Land vereinbarte Abbaupfad kann laut Kämmerer 2014 eingehalten werden. Alles in Butter also?
Nein, denn diese Reduzierung ist nicht nachhaltig, ist ohne eigenes Zutun gekommen, hat mit wirklicher Konsolidierung nichts zu tun. Und sie enthält jede Menge Risiken: Steigt die Gewerbesteuer wirklich so stark? Kommt die Entlastung bei der Schulkindbetreuung durch das Land wirklich schon 2014 in dieser Höhe? Reichen die eingepreisten 2 % Lohnerhöhung der städtischen Angestellten aus (Ver.di fordert aktuell 100 € Sockelbetrag + 3,5 %, was in den niedrigen Lohnklassen bis zu 7% mehr bedeutet)? Bleiben die Zinsen so niedrig?
Schon für 2015 würden die jetzt angewendeten Berechnungstricks nicht mehr ausreichen, das Defizit wird aus heutiger Sicht um eine Million € höher liegen als vereinbart. Das kommt davon, wenn von den Anfang 2013 vorgestellten Maßnahmen zur Ausgabensenkung nur rund die Hälfte auch tatsächlich umgesetzt wurden und gleichzeitig weitere kontinuierliche Ausgabenposten zusätzlich beschlossen wurden. Kern und Sturm haben bei der Verabschiedung des Rettungsschirmpakets versprochen: 2013 muss der Bürger in Vorleistung treten, aber ab 2014 wird die Verwaltung nachlegen, die Ausgabenseite wird über 80 % der Konsolidierung tragen. Dieses Versprechen hat der Bürgermeister gebrochen, das Ziel wurde klar verfehlt. Auch 2014 wird der Bürger die Hauptlast der Konsolidierung tragen. Das war so nicht vereinbart und kann nicht meine/unsere Zustimmung finden!

Nicht dass man mich falsch versteht: ich hoffe wirklich, dass der Weg des Bürgermeisters Erfolg hat, dass Rödermark um die großen Einschnitte herum kommt, dass die Stadt weiterhin ihre Aufgaben erfüllen und ihr Angebot aufrecht erhalten kann. Aber innerlich glaube ich nicht daran. Ich würde einen anderen Weg gehen, der wie beschrieben schmerzhafter wäre, mir aber langfristig erfolgversprechender erscheint.
Nein, die Hauptamtlichen sind nicht völlig sparunwillig, sie bemühen sich schon auf ihre Weise. Aber es wird nicht genug sein. Ich sehe es auch als Aufgabe der Opposition an, sie immer wieder

Dr. Rüdiger Werner
Rödermark, im Februar 2014

Blogbeitrag

Ober-Roden21 oder: typisch Dorfpolitik

Ober-Roden21 oder: typisch Dorfpolitik. Von Dr. Rüdiger Werner

Dr. Rüdiger Werner
Dr. Rüdiger Werner

Dr. Rüdiger Werner
20.12.2010
Die momentane Diskussion um die Gestaltungssatzung für den Ortskern verdeutlicht einmal mehr, was Politik alles falsch machen kann. Jahrelang hat die Politik zugeguckt, wie sich der Ortskern von Ober-Roden verändert hat. Geschäfte mit Nahversorgungscharakter machten zu, wurden teilweise durch Handyläden und Wettbüros ersetzt, Werbebanner wurden immer greller, die Straßen immer schlechter, die Parkplatzsituation ist grauenhaft. Auch in den Seitenstraßen ein Sammelsurium an Gebäuden – neu neben alt, auffällig modern gegen ortstypisch – und Straßenbelägen. Man kann der Politik also vorwerfen, dass sie viel zu spät versucht hat, hier gegenzusteuern, aber nicht, dass sie es versucht. Und der gewählte Ansatz ist richtig: Punktuell mit der Umgestaltung/Verschönerung des öffentlichen Raumes beginnen, nach und nach für ein einheitlicheres Straßenbild und damit für mehr Atmosphäre zu sorgen, den Hauseigentümern einen Anreiz geben, ihrerseits tätig zu werden und zur Verschönerung des Ortsbildes beizutragen. Rödermark hat nicht die 10 Mill. €, die nötig wären, um sämtliche Straßen, Plätze, Bürgersteige, Parkplätze, Schilder im Ortskern in einem Rutsch umzugestalten. Und die Politik hat auch keine Einflussmöglichkeiten, an welche Mieter Privateigentümer ihre Ladengeschäfte zu welchen Konditionen vermieten und welche Produktpalette und welchen Service diese dann offerieren. Politik kann nur Rahmenbedingungen verbessern. Und dazu gehört auch eine Gestaltungssatzung.
Es ist sicherlich richtig, dass Ober-Roden nicht Seligenstadt, Dreieichenhain oder Dieburg ist, dass ein Einheimischer kaum auf die Idee kommen würde, den Ortskern von Ober-Roden als Altstadt oder gar als historisch zu bezeichnen. Man sollte also tatsächlich nichts als erhaltenswert vorschieben, was so nie vorhanden war. Und dennoch haben auch die Historiker und Stadtplaner recht, die den Fränkischen Rundling als besondere Siedlungsstruktur bezeichnen und ihn erhalten und pflegen wollen. Warum denn auch nicht? Diese enge Siedlungsstruktur mit alten Hofreiten, mit den bogenförmigen Straßen hat durchaus einen gewissen Charme und viel Potenzial. Und was ist daran verkehrt zu versuchen, den baulichen Wildwuchs der letzten Jahrzehnte zu stoppen, die letzten Reste des „alten“ Ober-Rodens zu bewahren und langfristig für ein einheitlicheres Straßenbild zu sorgen?
Gestaltungssatzung – was ist das?
Was macht jetzt eine Gestaltungssatzung? Sie macht genau das eben erwähnte: sie betont das typische und kann dafür sorgen, dass die nächste Generation ein einheitlicheres Stadtbild mit deutlich mehr Atmosphäre als heute vorfindet. Im Ortskern gibt es nach meinem Kenntnisstand bis heute keinen gültigen Bebauungsplan, es gibt also aktuell kaum Einschränkungen beim Baurecht – ein Privileg, dass es in kaum einen anderen Teil Rödermarks gibt. Eine Gestaltungs-satzung macht nun einige wenige Vorgaben, die bei Neubauten, Umbauten und Sanierungen einzuhalten sind. Diese betreffen zum größten Teil nur die Straßenansichten der Gebäude und sind sehr allgemeiner Natur. Anwohner mögen schon dies als Einschnitt in ihre persönliche Freiheiten bezeichnen, es ist aber kein Vergleich mit den Beschränkungen eines Bebauungsplanes oder gar des Denkmalschutzes. Und vor allem ist es im Sinne der Allgemeinheit, im Sinne der Gesamtheit der Einwohner Rödermarks. Keiner wird gezwungen, sein Anwesen nach den Vorgaben der Satzung umzugestalten. Alles, was heute ist, darf auch so bleiben. Und was ist so schlimm dabei, wenn ein Hausherr bei einer Dachsanierung in der Farbe der Ziegel eingeschränkt ist? Das ist auch bei fast jedem Neubaugebiet der Fall. Und ich möchte bei einem Bummel durch den Ortskern auch kein lila Haus neben einem grünen stehen sehen, daher ist auch die Einschränkung der Fassadenfarbe sinnvoll. Auch sind z.B. schreiende gelb-orangene Werbeanbringungen nicht in meinem Sinne. Jede weitere davon ist eine weitere Verschandelung des Ortskerns. Was ist so schlecht daran, dies in Zukunft zu verhindern?
Ich habe den Entwurf der Gestaltungsfibel von vorne bis hinten sorgfältig gelesen. Die Texte der eigentlichen Gestaltungssatzung passen dabei auf 4 DIN A4-Seiten. Der Rest sind Empfehlungen. Von Regulierungswut und Baudiktat kann hier nicht im Entferntesten die Rede sein. Und ich verbitte mir wirklich, das Darmstädter Planungsbüro anzugehen, denn diese haben vom Magistrat einen klar definierten Auftrag bekommen, haben diesen ausgeführt und ein in meinen Augen gelungenes und sehr maßvolles Werk abgeliefert. Nicht mehr und nicht weniger.
Was ist also schief gelaufen? Ganz klar: Die Kommunikation. Schon nach der Verabschiedung der Pläne für das Ortszentrum Ober-Roden durch die Stadtverordnetenversammlung habe ich (damals noch CDU) parteiintern gefordert, eine Bürgerversammlung zu organisieren und die Pläne zu erörtern. Dagegen gab es in der Parteiführung Bedenken, es war eine gewisse Angst vor der Bürgermeinung zu spüren, eine Versammlung kam nie zustande. Auch der Magistrat wurde nicht aktiv, man richtete zwar eine Ortskernkommission ein, in der auch einige Anwohner vertreten sind, deren Ergebnisse blieben aber der breiten Öffentlichkeit vorbehalten. So wurden 2 Jahre möglicher Kommunikation mit den Bürgern verschenkt, bis das Planungsbüro die Satzung vorstellte. Der korrekte Weg wäre hier: Magistrat – Ortskernkommission – Fachausschuss (hier erstmals öffentlich). Und allerspätestens dann hätte der Entwurf jedem betroffenen Bürger zugänglich gemacht werden müssen, hätte es ein Anschreiben geben müssen mit dem Hinweis auf eine Bürgerfragestunde/Bürgeranhörung zu dem Entwurf, mit Planer und Auftraggeber auf dem Podium. Hier hätte man sehen können, welche Punkte der Satzung bei den Betroffenen besonders umstritten sind, der Planer hätte seine Argumente erläutern können, die Bürger ihre. Am Ende hätte der Planer den Satzungsentwurf nach den Bürgerwünschen modifizieren können, die modifizierte Satzung wäre erneut durch alle Gremien gelaufen und dann der Stadtverordnetenversammlung zur Abstimmung und damit Ratifizierung vorgelegt worden.
Doch was ist passiert? Kaum hat der Magistrat über die Satzung beraten, stand sie auf der Tagesordnung der Stadtverordnetenversammlung zur Abstimmung! Herr Bürgermeister, hier haben Sie zum 2. Mal gegen ihren eigenen Anspruch gehandelt. Wo ist hier die Bürgerbeteiligung? Als nächstes hat die Ortskernkommission den Entwurf diskutiert. Die heftige Ablehnung einiger Anwohner hat die Politik so überrascht, das der nächste Fehler passiert ist: Man kam darüber überein, sie jetzt nicht im Ausschuss vorzustellen (und damit der Öffentlichkeit). Damit führen wir jetzt eigentlich eine Gespensterdiskussion, bei der nur ein sehr kleiner Kreis weiß, worum es eigentlich geht, aber jeder mitreden will und seine Kommentare abgibt.
Und was macht die Politik (und hier besonders die Hauptinitiatorin, die CDU)? Sie ist dabei einzuknicken! Wenige kritische Anwohner reichen aus, die Arbeit von mehreren Jahren hinfällig werden zu lassen. Wenn man das, wovon man viele Jahre lang überzeugt war, das man initiiert hat, für das man sich eingesetzt hat, plötzlich für verkehrt hält, ist das populistisch und man macht sich unglaubwürdig. Dabei wurde bisher an keiner Stelle eine wirklich offene Diskussion geführt, an der auch die Argumente pro Gestaltungssatzung eine Plattform gefunden hätten.
Die Reaktion der Anwohner ist verständlich: da kommt etwas Neues, was genau, weiß man nicht, man fühlt sich nicht mitgenommen, Ängste kommen auf, die in Ablehnung umschlagen. Kenne ich nicht, verstehe ich nicht, will ich nicht! Das mag zum einen an der deutschen Mentalität liegen, vor allem liegt es aber daran, dass die Politik – nicht einmal im kommunalen Bereich – in der Lage ist, ihre Entscheidungen den Bürgern zu erklären und die Bürger mitzunehmen.
Ich bin der Überzeugung, dass, wenn das Planungsbüro und die Befürworter eine wirkliche Chance bekommen hätten, ihre Argumente vorzutragen, die Akzeptanz unter den Betroffenen weit größer wäre als zurzeit. Und eines muss man auch einmal deutlich sagen. Die Ortsmitte geht nicht nur die direkten Bewohner an, sie ist von allgemeinem Interesse für eine Kommune. Und die Kunden und Besucher der Ortsmitte haben ein großes Interesse daran, dass sich diese langfristig zum Positiven verändert: mehr Atmosphäre, mehr Stil, mehr Lebensqualität. Das geht nur mit den Anwohnern und die vorliegende Gestaltungssatzung wäre hierfür auch sehr förderlich.
Dr. Rüdiger Werner
Marienstr. 19
20.12.2010
Zurück zur Übersicht

Blogbeitrag

Guido Westerwelle

Guido Westerwelle. Von Dr. Rüdiger Werner

 

Dr. Rüdiger Werner
Dr. Rüdiger Werner

Dr. Rüdiger Werner
21.12.2010
„FDP im Umfragetief“ • „Ist Westerwelle noch zu halten?“ • „FDP-Politiker wendet sich gegen Westerwelle“ – dies sind nur einige der Schlagzeilen, die das Umfrage- und Stimmungstief der FDP beschreiben. Als Parteimitglied und kurz vor einer Kommunalwahl stellt man sich natürlich die Frage, wie man aus dem Umfragetief wieder herauskommt. Liegt es wirklich an Guido Westerwelle?
Jahrelang dümpelte die FDP in Land und Bund bei 4–7 %. In den 90er Jahren – Genscher und Graf Lambsdorff waren bereits Auslaufmodelle – wurde die Partei von so „charismatischen“ Politikern wie Klaus Kinkel und Wolfgang Gerhardt geführt. Parallel tauchte ein Generalsekretär auf, der anders war – jugendlicher, frischer, dynamischer. Das war vielen schon wieder zu sehr Spaßgesellschaft und zu wenig politischer Ernst. Dabei schaffte es Westerwelle trotz Big Brother-Auftritt, Kanzlerkandidat, Guidomobil und Co. auch in seinen politischen Aussagen oft, den Nabel der Zeit zu treffen, durch klare Statements und das Aussprechen teilweise unangenehmer Wahrheiten. So sehe ich es hauptsächlich als seinen Verdienst an, dass die FDP sich in seiner Amtszeit als Parteivorsitzender von 6,2 % (1998) über 7,4 % (2002) und 9,8 % (2005) auf 14,2 % (2009) verbessert hat (wobei das 2009er Wahlergebnis sicherlich auch etwas mit der Schwäche der Union zu tun hat). Der Rest ist bekannt: Noch nie hat eine Partei bei der Sonntagsfrage in einem Jahr fast 10 % der Stimmen verloren. Die FDP hat das geschafft.
Fehler Nr. 1: Es ist Finanzkrise und Rezession, die größte Kompetenz wird der FDP in Wirtschafts- und Finanzfragen zugestanden. Jeder hätte also erwartet, das der Vorsitzende der FDP mehr Kompetenzen für das Wirtschaftsministerium einfordert und sich dann als Wirtschaftsminister in der Krise profiliert. Stattdessen wandelt er auf Genschers und Kinkels Spuren und schnappt sich das Außenministerium – ohne große Erfahrungen, ohne Profil auf diesem Gebiet, so dass selbst die eigenen Wähler sagen: eine totale Fehlbesetzung!
Fehler Nr. 2: Die Prioritäten der Wirtschafts- und Finanzpolitik sind in einer Rezession andere als im Aufschwung. Forderungen, die vorher Stimmen gebracht haben, stoßen jetzt auf Ablehnung. Hierfür zeigte der Wähler mehr Gespür als die handelnden Politiker, besonders die der FDP. Ein bisschen weniger „niedrig“, ein bisschen mehr „einfach“ und „gerecht“ hätten der FDP gut getan.
Fehler Nr. 3: Warum die FDP bei den Koalitionsverhandlungen ein Ministerium übernommen hat, dass sie vorher eigentlich abschaffen wollte (Entwicklungshilfe), bleibt ihr Geheimnis. Und warum ein hoffnungsvoller Jungpolitiker (Rösler) ein Ministerium haben wollte, mit dem man nichts gewinnen kann, wo man sich schon nach kurzer Zeit zwischen leeren Kassen und starken Lobbyverbänden verbraucht, kann ich auch nicht nachvollziehen.
Der Rest erinnert an die Fußball-Bundesliga. Erst stimmen die Ergebnisse nicht, dann schießt sich die Presse auf einen ein, alles was vorher gut war, wird nun infrage gestellt, der ganze Verein wird schlecht geredet und am Ende wird lautstark ein Trainerwechsel gefordert, zuerst indirekt durch die Medien, anschließend direkt durch einige eigene Anhänger. Dabei trifft den Trainer immer nur eine Teilschuld. Fakt ist: ein Trainer kann so gut sein wie er will, wenn er erst einmal medial auf der Abschlussliste steht, ist er langfristig nicht mehr zu halten. Ein bekanntes Opfer eines solchen Prozesses ist Edmund Stoiber. Anfangs äußerst populär und unbestritten einer derjenigen, die Bayern dorthin geführt haben, wo es heute steht: an der Spitze der deutschen Bundesländer, wurde er zum Schluss zur Witzfigur degradiert. Das gleiche Schicksal erleidet zurzeit Guido Westerwelle. Westerwelle polarisiert ähnlich, die meisten Wähler haben jetzt eine vorgefertigte Meinung, die man auch durch Kompetenz und fehlerfreies Arbeiten nicht mehr abändern kann.
Ich sage es nur ungern, weil ich ihn persönlich sehr schätze und ich in den Reihen der FDP keinen kompetenten Nachfolger sehe, aber die Zeit von Guido Westerwelle ist bereits mit 49 Jahren faktisch abgelaufen. Ich glaube nicht, dass ein Trainerwechsel wirklich erfolgversprechend ist, aber die FDP wird aufgrund des medialen wie parteiinternen Drucks nicht umhinkommen, diesen über kurz oder lang zu vollziehen.
Schade!
Dr. Rüdiger Werner
Marienstr. 19
21.12.2010
Zurück zur Übersicht